Paul Leppin - Daniel Jesus

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Paul Leppin

Daniel Jesus

Es war eine lange und ziellose Straße, in der Daniel Jesus hinter einem häßlichen Abend ging. Der war immer vor ihm, und er konnte ihn nicht erreichen mit seinen dünnen, schmerzhaften Beinen, die einen hastigen und flackernden Schatten auf die nassen Steine des Pflasters streuten, der ihn ärgerte und verdrießlich stimmte. Der Abend lief vor ihm her wie ein tolles und boshaftes Tier, und er konnte ihn mit seinen magern Fingern nicht greifen und konnte ihn nicht bei den wirren Haaren fassen und ihm in die zuchtlosen Augen starren, lange und nahe, so daß sein heißer Atem über seine zuckenden Wimpern fahren müßte. Das war sein lieber Gedanke und seine sehnsüchtigste Sehnsucht seit Jahren. Wer so den Abend erwürgen könnte! Denn der Abend war böse. Natürlich müßte man vorsichtig sein. Sich nicht belauern lassen und mit einfachen und gütigen Worten sich ihm nähern und lächeln und ihn liebkosen wie ein Weib. O, er würde schon klug sein! Der Haß würde wie eine Inspiration in ihm leuchten, daß er die richtige Weise fände, den Abend zu bändigen und zu töten. Er gäbe sich ihm hin wie ein Knabe, der gestern ins Leben kam, und wäre sanft und leidenschaftlich und wollüstig. Er würde mit verlangenden Händen den glatten Leib dieser Metze betasten und sie schläfrig und gierig machen. Bis er unter seinen Fingern die schwarzen Adern an ihrem Halse klopfen fühlte, in denen ihr Herzblut brannte. Da würde er zudrücken, plötzlich und krampfhaft und ohne Erbarmen. Dann bekäme sie jenes furchtbare Antlitz, von dem er jede Nacht träumte. O Gott, daß er immer daran denken mußte! Aber er konnte diesem Bilde nicht entrinnen! In jedem Spiegel war es, in den er hineinsah, und hinter jedem Fenster, an dem er vorbeiging, hing es wie eine Larve. Es war ein bleiches und angstvolles Gesicht, das eine arge Krankheit mit Eiter und Aussatz grausam gezeichnet hatte. Und unter seinen drosselnden Gelenken war ein hilfloser Schrecken in dieses Gesicht gekommen, der seine Augen aus den Höhlen trieb. Und aus dem keuchenden Halse kroch die verfaulte Zunge wie ein Eingeweide heraus und wollte kein Ende nehmen und wurde länger und länger und wuchs und stieß die Glasscheiben der Fenster ein, an denen er vorüber mußte. Die Straße war ziellos und lang, und die giftige Zunge leckte nach ihm und haschte sein Kleid, und sie kam näher und nahe. Du großer Gott! Jetzt war sie da, nur vorwärts, und sich nicht umschaun um Gotteswillen!

Daniel Jesus lief. Er lief in kurzen, zappelnden Sprüngen, und der Schweiß rann ihm in blassen Tropfen in seinen schüttern Bart. Er lief, bis ihm seine kranke Lunge den Dienst versagte und er röchelnd stehn blieb. Da lehnte er sich an einen Laternenstock und ruhte aus. Gott sei Dank! Die Angst war vorüber, und er fürchtete sich nicht mehr. Er mußte wirklich zum Arzt gehn in den nächsten Tagen, denn er hatte Visionen. Der Abend war ja nicht tot, der ging vor ihm her und tanzte einen Polkaschritt um jede elektrische Lampe und hüpfte spöttisch von einer Seite der Straße auf die andere hinüber und schielte in die Parterre-Wohnungen hinein, und er hatte ihn noch nicht erwürgt, und darum brauchte er dieses Gesicht nicht so zu scheun! Trotzdem! Und wenn es ihn zu Tode quälen sollte. Denn er haßte den Abend. Weil er sich lustig über seinen Buckel machte und ihn hundertmal nachäffte an den Häuserwänden, verzerrt und grotesk, komisch und gemein.

Jedesmal, wenn eine Laterne kam, sah er seinen spitzigen, schiefen Buckel an der Wand und auf der Erde, zwei-, dreimal, in vielen Schattierungen und Längen. Die Sonne war ehrlich und zeigte ihm sein Gebrechen, aber der Abend verhöhnte es. Er ließ sich nicht verhöhnen, er, der reiche Daniel Jesus, dem die Leute die Hand küßten, wenn er wollte.

Verbittert und ächzend ging er weiter. Es war doch eine Miserabilität dieses Lebens, das er führte. Es hatte kein Ziel und kein Ende, genau so wie die Straße, die er vor sich sah. Es war nichts darin, als wüste, verlogne Gaukeleien, in denen sich sein starkes, hungriges Herz verlor. Diese Orgie, die er in seiner Villa gestern veranstaltet hatte, weil der junge Baron Sterben zwanzig Jahre alt geworden war. War das groß und grausam, und war darin nur ein Stückchen von der großen Gloria der Missetat? War darin Glut und Sünde? War darin ein Untergang? Nicht einmal schamlos war es: Ein paar nackte Mädchen, die sich mit Champagner betranken und sich dann auf seinen wunderschönen, blutroten Teppich übergaben, der ein Vermögen wert war. Wo war da jener blinde und ruchlose Zug, der seiner würdig wäre? Eine Fürstin hätte er finden müssen! Aber eine Fürstin der Seele, keusch und gut, damit ein wenig Tragik dabei sei, ein wenig Kampf und Schande und Sünde. Eine Heilige hätte auf seinen Knien sitzen müssen und Rosen auf seinen häßlichen Buckel streun und seine verkrüppelten Füße küssen und dem Baron Sterben splitternackt den Champagner reichen. So war es dumm und langweilig gewesen. Diese Bürgerstöchter hatten keine Seelen. Es rührte und packte sie nichts, und sie schauerten niemals unter einem solchen Abend. Es fror und schrie nichts in ihnen, kein Verbrechen und keine große Uebeltat, keine Wollust der Selbsterniedrigung, kein Rausch und keine Sehnsucht.

Er mußte Seelen sehn, wenn sie nackt und betrunken waren. Das liebte er. Brünstig und inbrünstig, ekstatisch und irre. Von einer großen Kraft verwirrt, von einem Gott oder einem Tiere. Darum ging er jetzt auch wieder in das kleine Haus neben dem Eisenbahnviadukt, wo er schon so lange nicht gewesen war. Sie würden ihn frostig empfangen, Schuster Anton und seine Beter. Sie wußten ja immer alles, was er tat. Sie waren wie das böse Gewissen. Und sie wußten sicher schon, daß er gestern abend wieder gesündigt, daß er dem Teufel seine Türe geöffnet habe. Er konnte nicht ersinnen, wo Schuster Anton alle diese Dinge erfuhr. Aber sie waren ihm alle bekannt.

Furchtsam und fiebernd ging Daniel Jesus die finstre Holztreppe hinauf. Ganz leise öffnete er die Tür und stand im Zimmer.

Sie sangen gerade das Marienlied vom schmerzlichen Herzen. Um einen langen, kahlen Holztisch herum standen eine Menge Menschen mit Gesangbüchern in den heißen Händen, und ihre Stimmen stiegen wie ein herber zerbrochner Schrei in die Höhe und stießen sich an der niedrigen Zimmerdecke wund. Und alle dachten nur das eine Lied. Es war kein Raum in ihren Seelen für die Geschehnisse der Stunde. Am Ende des Tisches stand Schuster Anton. Er kannte das Lied schon auswendig und hatte seine harten, ungeheuern roten Hände zum Gebet gefaltet und sang. Es klang wie ein Notruf auf See. In Nacht und Sünde war sein Schiff gescheitert und trieb jetzt umher und suchte Gott. Und er rief ins Dunkle hinaus, stetig und immer lauter, sinnlos und gläubig. Ein wilder und stolzer Kopf saß auf seinem riesenhaften Leib. Bartlos in trotziger Askese, mit einem Mund, der wie ein Säbelhieb in seinem narbigen Gesicht geblieben war.

Neben ihm stand sein Weib. Groß und riesenhaft wie der Schuster, mit einem wundervollen, brandroten, glutenden Haar. Sie dehnte und bog ihren mächtigen Leib im Gesang und rang mit der Sünde. Sie schrie das Lied in die Stube, daß es wie ein verirrtes und erdrosseltes Schluchzen auf die Gasse fiel und die alten Frauen schauernd ein Kreuz schlugen. Aber es half nichts. Sie konnte ihr Blut nicht töten, und das Lied füllte ihr Herz nicht aus wie die Herzen der andern. Sie suchte mitten zwischen den Strophen nach einem Brand und einer Verheerung. Denn die Liebe zu Gott war klein und arm und kein Sturm wie bei Schuster Anton. Der war ein Messias und ein Erlöser und sie ein armes Weib. Aber sie mußte auch eine Glut in ihrer Seele haben, die ihr Blut verdorren ließ wie einen Tümpel in der Sonne. Sie war ein Mensch, in dem es viel zu verbrennen gab. Sie haßte ihr Blut und ihren großen Leib, den sie nicht bändigen konnte. Sie hatte eine stumpfe und gierige Angst vor ihrem Leib. Sie sang. Und es war wie ein Notruf auf See.

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