Grüß dich Gott mei liebr Flochs,
tu nimmer nix, wie immer wochs,
long wie a Weid,
klor wie a Seid,
dr Mutter Gottes of a Kleid.
Ich sage LEINEN und weiß mehr als andere, die ebenfalls Leinen sagen. Ich höre, rieche, taste dieses Wort, ich sehe Farben, die mit dem Wort in Verbindung stehen, auf deren Hintergrund das Wort schwimmt, von dem es sich abhebt, das Wort liegt in langen Bahnen ausgespannt, an den Enden angepflockt, auf grasbewachsenen Flächen, wird aus Gießkannen berieselt, liegt in Ballen gerollt, zusammengefaltet im Schrank. Ich sage LEINEN und höre Unterröcke rascheln, die vor dem Bügeln in Kartoffelstärke getaucht worden sind, ich sehe WEISS, wenn ich Leinen sage, aber dieses Weiß ist umgeben von Grün, ich sehe Sonne über dem Grün, stehe mit nackten Füßen bis zu den Knöcheln im Bach, schöpfe Wasser, wate im Wasser.
Ich verlange Leintücher von einer Verkäuferin in einem Bettwarengeschäft, sie bringt in durchsichtige Kunststoffhüllen Verpacktes, ich lese die Aufschrift, sage: das ist Baumwolle, das wollte ich nicht, die Verkäuferin antwortet, das sei Baumwolleinen.
Sie können auch Mischware haben, sagt die Verkäuferin, Baumwolle mit Kunstfaser, beinahe bügelfrei, jedenfalls PFLEGELEICHT, ich rate Ihnen dazu, ich habe selbst nur pflegeleichte Bettwäsche.
Schon dreht sie sich zu den Regalen um, greift nach weiteren Bettüchern, in Klarsichtfolie verpackt, legt sie mir auf das Pult.
Nein, sage ich, das wollte ich nicht. Ich wollte Leintücher aus LEINEN.
Das wird bei uns nicht mehr erzeugt, sagt die Verkäuferin, das gibt es nicht mehr. Vielleicht in der Tschechoslowakei, wenn Sie einmal hinüberfahren.
(Einige Wochen vor ihrem Umzug in den erwähnten Gemüse- und Obstkeller wurde von Annas Eltern in der zu diesem Zeitpunkt noch völlig intakten Wohnung ein großer, mit grünem Leinen bespannter Koffer gepackt. In diesen Koffer legte die Mutter Leib- und Bettwäsche, einige warme Kleidungsstücke, Strümpfe, Handtücher und Taschentücher. Nach sieben Kriegsjahren gab es nicht mehr viel Entbehrliches, das man verpacken konnte. Selbst die Abschnitte auf den Kleiderkarten, die zum Bezug von Textilien berechtigten, waren nicht mehr einlösbar, die Geschäfte hatten kaum noch etwas zu verkaufen. Zwei oder drei Kleider aus verschiedenfarbigen Stoffen ergaben ein neues.
DAMALS WAREN DIE KOMBINIERTEN KLEIDER IN MODE, sagt die Mutter, erinnerst du dich?
Für Schuhe mußte man einen Bezugsschein beantragen, einmal im Jahr gab es ein Paar Sandalen aus buntem Baumwoll- oder Zellwollstoff, die Sohlen waren aus Holz.
Als die Mutter alles verpackt hatte, was irgendwie entbehrlich war, war in dem Koffer immer noch Platz. Sie holte ein rotsamtenes Abendkleid aus dem Schrank, das sie Jahre vor Kriegsbeginn zum Feuerwehrball getragen hatte, legte es sorgfältig zusammen und verstaute es im Koffer. Vielleicht würde man sich, wenn man nichts anderes mehr hatte, nicht scheuen, ein Kleid aus feuerrotem Samt zu tragen. Die noch verbliebenen Hohlräume im Koffer füllt sie mit gestrickten mehrfarbigen Wollsocken, Fäustlingen, schließlich mit Tischwäsche aus. Zuletzt ging sie noch einmal zum Schrank und entnahm ihm ein sehr großes, über und über besticktes Leinentischtuch mit zwölf dazugehörigen ebenfalls bestickten Servietten, deckte mit Tischtuch und Servietten das feuerrote Abendkleid zu und schloß den Koffer sorgfältig ab.
Der Koffer wurde mit einem der damals noch verkehrenden Züge FÜR ALLE FÄLLE zu Bekannten nach Österreich geschickt.
Leib- und Bettwäsche, Handtücher und Taschentücher, Strümpfe und Wollsocken haben Anna und ihren Eltern schon kurze Zeit später ein Vermögen bedeutet. Das rotsamtene Abendkleid ist gegen Lebensmittel eingetauscht worden. Das kostbar bestickte Leinentischtuch und die zwölf dazugehörigen Servietten haben sich als unverkäuflich erwiesen, weil jedes Stück mit einem kunstvoll gestickten Monogramm versehen war. Leute, die sich in der ersten Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gestickte Leinentischtücher und dazugehörige übergroße Servietten leisten konnten, wollten diese mit ihrem eigenen Monogramm versehen haben.
Nachdem wir, Bernhard und ich, die uns von der Hilfsgemeinschaft SOS geschenkten Möbel, die beiden Schränke, die vier Stühle, den ovalen Tisch mit dem geschnitzten Fuß und den Schreibtisch, vom Handwagen abgeladen und ins Haus getragen, in den Zimmern der Wohnung gleichmäßig und gerecht verteilt hatten, fuhren wir noch einmal mit dem Handwagen durch die Stadt und holten das Ausziehbett ab.
Die Eltern schenkten uns zur Komplettierung unseres Haushaltes das bestickte Leinentischtuch und die zwölf dazugehörigen, ebenfalls bestickten Servietten, von denen jede einzelne so groß war, daß wir sie als Tischtuch für einen kleineren Tisch, den wir später noch kauften, verwenden konnten.
Das bestickte Tischtuch und die Servietten sind die einzigen Wäschestücke in unserem Haus, von denen ich mit Sicherheit sagen kann, daß sie wirklich aus LEINEN gewebt sind.)
Fast hundertzwanzig Jahre alt ist die oval zugeschnittene, schon stark verblichene Fotografie, aus der mir Johann Wenzels des Zweiten siebentes Kind, Josef, der Färbermeister, mit melancholischem Gesichtsausdruck entgegenblickt. Mit stark abfallenden Schultern, modischem Halstuch, abstehenden Ohren und Backenbart steht er hinter seiner zu einem verschüchterten Häuflein zusammengedrängten Familie. Er trägt eine Weste aus bedrucktem Samt, die Kanten der Weste sind mit Seide eingefaßt. Die Uhrkette liegt, gut sichtbar, halbkreisförmig über dem mageren Leib. Einer der merkwürdig langen Arme hängt seitlich unbeholfen herab, einer ist abgewinkelt, die Hand liegt schwer auf der Schulter seiner ältesten Tochter Anna, die, unter dem Gewicht dieser väterlichen Hand seltsam verkrampft, nach vorne geneigt dasteht. Halblinks hinter der Tochter die in dunklen, gefältelten Taft gekleidete, verschreckt ins Objektiv blickende Mutter, die großen Hände ungeschickt im Schoß haltend, sichtlich eingeengt durch ein wahrscheinlich ungewohntes Mieder, halbrechts hinter der Mutter die jüngere Tochter Cäcilie, in (wahrscheinlich blau bedrucktem) geblumtem Kleid, rundköpfig, ein Samtband um den Hals. Im Vordergrund, eng an die Mutter gedrängt, je ein Knabe, der etwa achtjährige Johann und der fünfjährige Adalbert, beide rundköpfig, beide je einen großen runden Hut mit aufgebogener Krempe in der Hand. Alle vier Kinder haben die abstehenden Ohren des Vaters geerbt.
Im Hintergrund ist ein Marmorkamin zu sehen, auf dessen Sims Porzellanfiguren zwanglos verteilt sind, die Wand hinter dem Kamin ist mit Stuck verziert, der Stuck deutet Wohlstand an, ein Vorhang hängt mit schweren Falten von rechts in die Fotografie.
Kamin, Stuckzierat, Porzellan und Vorhang sind kunstvoll auf Pappe gemalt.
Josef, das Bauernkind aus den böhmischen Wäldern, aus dem IN DEN WÄLDERN FAST VERLORENEN DORF, hat es zum selbständigen Färbermeister gebracht, ein sozialer Aufstieg, der Beachtung verdient.
Ich stelle mir Josef vor, einen kleinen, mageren Bengel mit abstehenden Ohren und melancholischem Blick, wie ihn Johann Wenzel, der Vater, nach Schildberg ins Haus seines Lehrherrn bringt.
Schon daheim hat er tüchtig mithelfen müssen, man rechnete mit der Arbeitskraft der Kinder in jener Zeit, Bauernjungen hatten im Flachsfeld, im Heu, bei der Kartoffel- oder Getreideernte frühzeitig zuzupacken, die Kinder der Weber hatten die aus Holunderholz gefertigten Spulen für das Garn herzustellen, auch sonst kräftig mitzuhelfen. Aber auch Lehrlinge hatten nicht viel zu lachen. Der kleine Josef wird, wie die meisten seiner Altersgenossen, die ein Handwerk erlernen wollten, ein hin- und hergehetzter, zu Botengängen und niedrigen Arbeiten mißbrauchter, auf jeden Fall ein bedauernswerter, wahrscheinlich spindeldürrer, niemals ganz sattgefütterter Junge gewesen sein, der die Fußböden der Meisterin schrubbte, die Wege und das Haus kehrte, die Kinder beaufsichtigte, der Töpfe und Pfannen zu reinigen, blank zu reiben hatte, der schwere Lasten schleppte. Er mußte die großen, in der Färberei verwendeten Holzgefäße säubern, die schweren Leinen- und Stoffballen tragen, auf hohen Leitern balancierend Gefärbtes auf Stangen hängen, von diesen wieder herunterholen, er war seinem Meister und dessen Frau, überhaupt sämtlichen Mitgliedern der Familie des Meisters, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Читать дальше