Immer mehr Strahlenbündel jagten durch den Raum, und bald war das Grauen der Nacht restlos vertrieben.
Die Versteinerung war aufgehoben, und es war seltsam, wie viel Lebendiges jetzt zum Vorschein kam. Der rotnackige Schwarzspecht hämmerte mit seinem Schnabel auf einen Baumstamm los. Das Eichhörnchen huschte mit einer Nuß aus dem Nest, setzte sich auf einen Zweig und begann sie zu schälen. Der Star kam mit einer Wurzelfaser geflogen, und im Wipfel des Baumes sang der Buchfink.
Nun wusste der Junge, dass die Sonne zu all diesen kleinen Wesen gesagt hatte: »Wachet auf und kommt aus euern Nestern! Jetzt bin ich hier. Jetzt braucht ihr euch nicht mehr zu fürchten.«
Vom See waren die Rufe der Wildgänse zu hören, die sich zum Flug vorbereiteten. Gleich darauf flogen alle vierzehn Gänse über den Wald. Der Junge versuchte sie anzurufen, aber sie flogen so hoch, dass seine Stimme sie nicht erreichte. Sicher glaubten sie, der Fuchs hätte ihn längst gefressen. Sie machten sich nicht einmal die Mühe, nach ihm zu suchen.
In seiner Angst hätte der Junge fast geweint, doch jetzt stand die Sonne am Himmel, goldgelb und fröhlich, und erfüllte die ganze Welt mit Mut. »Du brauchst dich vor nichts zu fürchten oder zu ängstigen, Nils Holgersson, solange es mich gibt«, sagte die Sonne.
Noch eine Weile blieb alles im Wald unverändert, bald aber kam unter dem dichten Dach der Zweige eine einzelne Wildgans geflogen. Sie schien zwischen Stämmen und Zweigen umherzuirren und bewegte sich sehr langsam. Sowie Fuchs Smirre sie entdeckte, verließ er seinen Platz unter der Jungbuche und pirschte sich an sie heran. Die Wildgans wich ihm nicht aus, sondern flog ganz dicht an ihm vorüber. Smirre machte einen hohen Sprung, verfehlte sie jedoch, und die Gans flog weiter zum See.
Smirre kehrte zur Buche zurück, um den Knirps zu bewachen, doch als er in den Wipfel hinaufschaute, da war es dort leer. Der Knirps hatte die Gelegenheit genutzt und war geflohen.
»Heute Nacht hast du Pech, Smirre«, sagte der Fuchs zu sich selbst. »Aber diese Gänseschar wirst du sicher noch einmal treffen.«
Wildvogelleben
Im Park von Övedskloster
Dienstag bis Samstag
Am nächsten Morgen flogen die Wildgänse zum Herrensitz Övedskloster, der östlich des Vombsees in einem herrlichen Park gelegen war. Alles sah prachtvoll aus: das große Schloss, der schöne, von niedrigen Mauern und Pavillons umgebene Schlosshof und der vornehme, altertümliche Garten mit beschnittenen Hecken, geschlossenen Laubengängen, Teichen, Wasserspielen, herrlichen Bäumen und kurzgeschorenen Rasenflächen, deren Rabatten von bunten Frühlingsblumen leuchteten.
Als die Wildgänse den Herrensitz frühmorgens erreichten, war noch kein Mensch auf den Beinen. Nachdem sie sich davon gründlich überzeugt hatten, näherten sie sich dem Hundezwinger und riefen: »Was ist denn das für eine kleine Hütte? Was ist denn das für eine kleine Hütte?«
Sofort stürzte der Kettenhund heraus, außer sich vor Wut, und bellte in die Luft: »Nennt ihr das eine Hütte, ihr Landstreicher? Seht ihr nicht, dass es ein großes Schloss aus Stein ist? Seht ihr nicht die schönen Mauern, die vielen Fenster und die großen Tore und die prächtige Terrasse, wau, wau, wau? Nennt ihr das etwa eine Hütte? Seht ihr nicht den Hof, seht ihr nicht den Garten, seht ihr nicht die Gewächshäuser, seht ihr nicht die Marmorfiguren? Nennt ihr das etwa eine Hütte? Haben denn Hütten einen Park mit Buchengehölzen und Haselnusssträuchern und Wiesen mit Laubbäumen und Eichenwäldchen und Tannenwäldchen und einen Tiergarten, der voller Rehe ist, wau, wau, wau? Nennt ihr das etwa eine Hütte? Habt ihr schon einmal eine Hütte erlebt, die um sich herum so viele Wirtschaftsgebäude hat, dass es wie ein ganzes Dorf aussieht? Wie viele Hütten kennt ihr denn, die eine eigene Kirche und ein eigenes Pfarrhaus haben und über Herrenhäuser und Bauernhöfe und Pachthöfe und Landarbeiterkaten gebieten, wau, wau, wau? Nennt ihr das etwa eine Hütte? Zu dieser Hütte gehört das größte Gut von Schonen, ihr Lumpenpack! Jeder Zipfel Erde, den ihr seht, ihr Wolkenhänger, ist dieser Hütte untertan, wau, wau, wau!«
All das bellte der Hund in einem Atemzug heraus, und die Gänse kreisten währenddessen über dem Hof und hörten ihm zu, bis er eine Pause machen musste. Dann aber schrien sie: »Warum bist du denn so böse? Wir haben doch nicht nach dem Schloss gefragt, sondern nur nach deiner Hundehütte.«
Die Wildgänse flogen nun zu einem der großen Felder östlich vom Schloss, um Graswurzeln zu knabbern, und hielten sich dort mehrere Stunden auf.
Als sie endlich satt waren, zogen sie wieder hinunter zum See und spielten und vergnügten sich dort bis gegen Mittag. Sie forderten den weißen Gänserich zum Vergleich in allen möglichen Sportarten heraus und schwammen, liefen und flogen mit ihm um die Wette. Der große Zahme tat sein Bestes, wurde von den schnellen Wildgänsen jedoch stets geschlagen. Der Junge saß die ganze Zeit auf seinem Rücken und feuerte ihn an und hatte genauso viel Spaß wie die anderen. Alle schrien und lachten und schnatterten, und es war ein Wunder, dass die Leute vom Herrensitz sie nicht hörten.
Eines Tages sagte Akka zu dem Jungen, er laufe allzu leichtsinnig im Park herum. Ob er denn nicht wisse, dass er sich bei seiner geringen Größe vor vielen Feinden vorzusehen habe. Nein, davon hatte er keine Ahnung, und nun begann Akka, ihm alle diese Feinde aufzuzählen.
»Wenn du im Wald bist«, sagte sie, »dann musst du dich vor Fuchs und Marder in Acht nehmen. Am Ufer des Sees musst du an Fischotter denken. Wenn du auf der Steineinfriedung sitzt, dann darfst du das Wiesel nicht vergessen, das durch das kleinste Loch schlüpfen kann, und wenn du dich in einem Laubhaufen schlafen legst, musst du zuerst untersuchen, ob nicht die Kreuzotter darin schläft. Sobald du aufs freie Feld hinauskommst, musst du ein Auge auf Habicht und Bussard, auf Adler und Falken haben, die hoch in den Wolken schweben. Im Haselgebüsch kann dich der Sperber fangen. Elstern und Krähen gibt es überall, und denen darfst du nicht allzu sehr trauen. Und sobald die Dämmerung hereinbricht, musst du die Ohren spitzen und auf die großen Eulen lauschen, deren Flügelschlag so lautlos ist, dass sie dich erreicht haben können, bevor du sie bemerkst.«
Als der Junge hörte, dass ihm so viele Feinde nach dem Leben trachteten, hielt er seine Lage für vollkommen hoffnungslos. Vor dem Sterben fürchtete er sich nicht so sehr, aber er hatte keine Lust, aufgefressen zu werden. Deshalb fragte er Akka, was er tun könne, um sich vor den Raubtieren zu schützen.
Akka antwortete sogleich, er müsse versuchen, sich mit dem Volk der kleinen Tiere in Wald und Flur gut zu stellen – mit Eichhörnchen und Hasen, mit Finken und Meisen und Spechten und Lerchen. Wenn er sie zu Freunden hätte, könnten sie ihn vor Gefahren warnen, könnten ihm Schlupfwinkel zeigen und sich in der größten Not zusammentun und ihn verteidigen.
Doch als der Junge ein paar Stunden später diesen Rat befolgen wollte und sich an Sirle, das Eichhörnchen, wandte, um seinen Beistand zu erbitten, schlug es ihm diese Bitte ab. »Du hast weder von mir noch von den anderen kleinen Tieren etwas Gutes zu erwarten«, sagte Sirle. »Glaubst du, wir wissen nicht, dass du Nils, der Gänsejunge, bist, der im vorigen Jahr Schwalbennester heruntergerissen, Stareneier zerschlagen, Krähenjunge in Mergelgruben geworfen, Drosseln in Schlingen gefangen und Eichhörnchen eingesperrt hat? Du musst dir schon selber helfen, so gut du kannst, und froh sein, wenn wir uns nicht gegen dich verbünden und dich zurück nach Hause jagen.«
In früheren Zeiten, als er noch Nils, der Gänsejunge, war, hätte er eine solche Antwort gewiss nicht ungestraft gelassen, jetzt aber fürchtete er nur, dass auch die Wildgänse erfahren könnten, wie viel Schlimmes er getan hatte. Seitdem er in ihrer Gesellschaft war, hatte er sich nicht den kleinsten Streich erlaubt. Er hatte kein einziges Vogelnest zerstört, hatte nicht eine Feder aus einem Gänseflügel gerupft und hatte jeden Morgen, wenn er Akka begrüßte, die Mütze abgenommen und sich verbeugt.
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