Als der Sturm gar nicht aufhören wollte, bezweifelte Akka schließlich, dass sie und ihre Schar ihn überleben könnten. Sie waren nun todmüde, und nirgends war ein Platz zum Ausruhen zu entdecken. Gegen Abend füllte sich das Meer ganz plötzlich mit großen Eisschollen, die gegeneinanderkrachten. Aus Angst, davon zerquetscht zu werden, wagte es Akka nicht mehr, sich aufs Wasser zu legen. Ein paarmal versuchten die Wildgänse, sich auf die Eisschollen zu stellen, aber der wilde Sturm fegte sie hinunter ins Wasser.
Als die Sonne unterging, waren die Gänse wieder in der Luft. Sie fürchteten sich vor der Nacht und flogen weiter. An diesem Abend voller Gefahren schien die Finsternis allzu schnell über sie hereinzubrechen.
Der Himmel war von Wolken verdeckt, der Mond hielt sich verborgen, und es wurde dunkler und dunkler. Die ganze Natur war von einem Grauen erfüllt, das selbst die tapfersten Herzen entsetzte. Die Notrufe der Zugvögel gellten durch die Nacht. Im Meer stießen die Treibeisschollen mit lautem Dröhnen aneinander. Es war, als sollten Himmel und Erde zusammenstürzen.
Als der Junge eine Weile aufs Meer geschaut hatte, war ihm, als würde das Brausen auf einmal lauter. Er hob den Kopf und erblickte direkt vor sich, nur ein paar Meter entfernt, eine raue, nackte Felswand. An ihrem Fuß brachen sich die Wellen, dass der Schaum hoch aufspritzte. Die Wildgänse flogen geradewegs auf die Klippe zu, und der Junge befürchtete, sie würden unweigerlich daran zerschellen.
Er hatte kaum Zeit, sich darüber zu wundern, dass Akka diese Gefahr nicht beizeiten bemerkt hatte, da waren sie auch schon am Felsen angelangt. Jetzt entdeckte er, dass sich vor ihnen der halbrunde Eingang einer Grotte auftat. Dorthin steuerten die Gänse, und einen Augenblick später waren sie in Sicherheit.
Erst einmal sahen die Reisenden nach, ob auch alle Kameraden mitgekommen waren. Akka, Yksi, Kolme, Neljä, Viisi, Kuusi, alle sechs jungen Gänse, der Gänserich, Daunenfein und der Däumling waren da, nur Kaksi von Nuolja, die erste Gans zur Linken, fehlte.
Als die Gänse merkten, dass niemand außer Kaksi verschwunden war, nahmen sie die Sache leicht. Kaksi war alt und klug. Sie kannte alle ihre Wege und Gewohnheiten, und sie würde wohl zu ihnen zurückfinden.
Dann sahen sie sich in der Grotte um. Mit Hilfe des letzten Tageslichts, das durch die Öffnung fiel, erkannten sie, dass es eine tiefe, große Höhle war. Plötzlich entdeckte eine von ihnen in einem finsteren Winkel ein paar leuchtende grüne Punkte. »Das sind Augen!«, rief Akka. »Hier gibt es große Tiere.« Sie stürzten zum Ausgang, doch der Däumling, der im Dunkeln besser als die Wildgänse sah, rief ihnen zu: »Davor braucht ihr nicht wegzulaufen! Das sind nur ein paar Schafe, die an der Höhlenwand liegen.«
Als sich die Gänse an das Dämmerlicht der Höhle gewöhnt hatten, erkannten sie die Schafe auch. Es waren etwa ein Dutzend erwachsene Tiere und dazu ein paar kleine Lämmer. Ein großer Schafbock mit langen, gewundenen Hörnern schien der Vornehmste der Herde zu sein. Die Wildgänse gingen auf ihn zu und verneigten sich viele Male. »Sei gegrüßt in der Wildnis!«, sagten sie, doch der große Schafbock entbot ihnen keinen Willkommensgruß, sondern blieb liegen.
Da glaubten die Wildgänse, die Schafe fühlten sich gestört, weil sie in ihre Höhle eingedrungen waren. »Vielleicht ist es ungelegen, dass wir in dieses Haus gekommen sind?«, fragte Akka. »Aber wir können nichts dafür, der Wind hat uns hierher verschlagen. Wir würden uns freuen, wenn wir heute Nacht hierbleiben dürften.«
Nun verging eine ganze Zeit, ohne dass eins der Schafe darauf antwortete. Einige stießen jedoch tiefe Seufzer aus. Akka wusste zwar, dass Schafe immer scheu und wunderlich sind, aber diese hier schienen überhaupt keine Ahnung zu haben, wie man sich benimmt. Endlich sagte ein altes Mutterschaf, dessen Gesicht lang und traurig war, mit klagender Stimme: »Niemand von uns will euch den Aufenthalt verwehren. Aber dies ist ein Haus der Trauer, und wir können keine Gäste empfangen.«
»Da könnt ihr ganz unbesorgt sein«, sagte Akka. »Wir sind schon zufrieden, wenn wir einen sicheren Platz zum Schlafen haben.«
Jetzt stand das alte Mutterschaf auf. »Es wäre besser für euch, im heftigsten Sturm herumzufliegen als hierzubleiben. Aber ihr sollt nicht aufbrechen, bevor wir euch so gut bewirtet haben, wie es in den Kräften des Hauses steht.«
Sie zeigte den Gänsen eine Grube im Boden, die mit Wasser gefüllt war. Daneben lag ein Haufen Spreu und Spelzen, und damit bat sie die Gänse vorliebzunehmen. »Wir hatten diesmal einen strengen Schneewinter auf der Insel«, sagte sie. »Die Bauern, denen wir gehören, brachten uns Heu und Haferstroh, damit wir nicht verhungern mussten. Und dieser Abfall ist alles, was davon übrig ist.«
Die Gänse machten sich sofort darüber her. Sie fühlten sich jetzt sehr wohl und waren bester Laune. Als sie dann satt waren, wollten sie sich wie gewohnt zum Schlafen aufstellen. Da aber erhob sich der große Schafbock und schritt auf sie zu. Einen Schafbock mit so langen, starken Hörnern hatten die Gänse noch nie gesehen. Auch in anderer Hinsicht war er bemerkenswert. Er besaß eine breite, gewölbte Stirn, kluge Augen und die gute Haltung eines stolzen, mutigen Tieres.
»Ich kann es nicht verantworten, dass ihr einschlaft, bevor ich euch mitgeteilt habe, wie unsicher es hier ist«, sagte er. Endlich begriff Akka, dass es ihm ernst damit war. »Wenn ihr es unbedingt wünscht, dann verschwinden wir eben«, sagte sie. »Aber wollt ihr nicht erst erzählen, was euch da so bedrückt? Wir haben überhaupt keine Ahnung und wissen nicht einmal, wohin wir geraten sind.«
»Dies ist die Kleine Karlsinsel«, sagte der Schafbock. »Sie liegt vor der Küste von Gotland und wird nur von Schafen und Meeresvögeln bewohnt.«
»Vielleicht seid ihr wilde Schafe?«, fragte Akka.
»Viel fehlt nicht daran«, entgegnete der Schafbock. »Wir haben kaum etwas mit Menschen zu schaffen. Es gibt zwischen uns und den Bauern eines alten Hofs auf Gotland seit langem eine Vereinbarung, dass sie uns in schneereichen Wintern mit Futter versorgen und dafür die Überzähligen von uns mitnehmen dürfen. Die Insel ist klein und kann also nicht allzu viele Schafe ernähren. Aber sonst versorgen wir uns das ganze Jahr selbst, und wir wohnen nicht in Häusern mit Türen und Riegeln, sondern halten uns in solchen Höhlen auf.«
»Bleibt ihr auch im Winter draußen?«, fragte Akka verwundert.
»Ja, das tun wir«, antwortete der Schafbock. »Hier oben auf dem Felsen finden wir das ganze Jahr genug Futter.«
»Aber was ist denn das für ein Unglück, das über euch hereingebrochen ist?«, fragte Akka.
»Im letzten Winter war es so kalt, dass das Meer zufror. Da kamen drei Füchse über das Eis, und die halten sich seitdem hier auf.«
»Wie denn, wagen sich Füchse an solche großen Tiere wie euch heran?«
»O nein, nicht am Tage, da kann ich mich und die Meinen wohl verteidigen«, sagte der Schafbock und schüttelte seine Hörner. »Aber nachts, wenn wir schlafen, dann schleichen sie sich in unsere Höhlen. In anderen Höhlen haben sie schon sämtliche Schafe umgebracht, dort waren die Herden genauso groß wie meine.«
»Glaubt ihr, dass sie heute Nacht auch herkommen?«, fragte Akka.
»Es ist nichts anderes zu erwarten«, antwortete der Schafbock. »Gestern Nacht waren sie hier und haben uns ein Lamm gestohlen. Sie werden wohl so lange kommen, wie noch eins von uns am Leben ist.«
Akka wusste nicht recht, was sie tun sollte. Es war kein Spaß, sich wieder in den Sturm zu begeben, und es war auch nicht gut, in einem Haus zu bleiben, wo derartige Gäste in Aussicht standen. Als sie eine Weile überlegt hatte, wandte sie sich an den Däumling. »Ich möchte dich fragen, ob du uns helfen willst, wie du es viele Male getan hast«, sagte sie.
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