Nun denke ich mir, Erik, dass der Schmetterling auf dem festen Land bald verwittert und zerfallen wäre. Aber weil er ins Meer gefallen war, wurde er von Kalk durchsetzt und so hart wie Stein. Du weißt ja, dass wir am Strand Steine gefunden haben, die waren nichts weiter als versteinerte Würmer. Und ich glaube nun, dass es dem großen Schmetterlingskörper genauso erging. Ich glaube, als er da in der Ostsee lag, da wurde er zu einer langen, schmalen Klippe. Meinst du nicht auch?«
Er wartete auf eine Antwort, und der andere nickte ihm zu. »Erzähl weiter und lass mich hören, worauf du hinaus willst!«, sagte er.
»Jetzt pass mal auf, Erik, diese Insel Öland, auf der wir beide leben, die ist nichts anderes als der alte Schmetterlingskörper. Man braucht nur nachzudenken, dann merkt man, dass sie ein Schmetterling ist. Im Norden hat man den schmalen Oberkörper mit dem runden Kopf und im Süden den Unterkörper, der erst breiter und dann schmaler wird und in einer scharfen Spitze endet.«
Hier machte er wieder eine Pause und sah den Gefährten an, als sei er unsicher, wie diese Behauptung aufgenommen würde. Aber der Jüngere forderte ihn nur nickend zum Weitersprechen auf.
»Als nun der Schmetterling in einen Kalksteinfelsen verwandelt war, kamen mit dem Wind vielerlei Samen von Kräutern und Bäumen zu ihm geflogen und wollten Wurzeln schlagen. Doch auf dem kahlen, glatten Stein fanden sie schwer einen Halt. Es dauerte lange, bis dort etwas anderes als Riedgras gedieh. Dann kamen Schafschwingel, Sonnenröschen und Dornengebüsch. Auf Alvaret, der Kalksteinebene, ist die Pflanzendecke heute noch so dünn, dass der Fels nicht überall bedeckt ist, sondern hier und da hervorschimmert. Und niemand kann davon träumen, auf dieser dünnen Erdschicht zu pflügen und zu säen.
Wenn du mir nun darin zustimmst, dass die Kalksteinebene und die Strandwälle rundherum aus dem Schmetterlingskörper entstanden sind, dann kannst du mit Recht fragen, woher das Land unterhalb davon gekommen ist.«
»Ja, genau«, sagte der Schäfer kauend, »das hätte ich gern gewusst.«
»Du musst bedenken, dass Öland schon seit vielen, vielen Jahren im Meer liegt, und in dieser Zeit hat sich alles, was in den Wellen treibt, Tang und Sand und Muscheln, rings um die Insel angesammelt und ist liegen geblieben. Und vom östlichen wie vom westlichen Strandwall fielen Kies und Steine. Auf diese Weise sind die breiten Uferstreifen entstanden, und darauf können Getreide und Blumen und Bäume wachsen.
Hier oben, auf dem harten Schmetterlingsrücken, weiden nur Schafe und Kühe und Ponys; hier wohnen nur Kiebitz und Brachvogel, und an Bauten gibt es nur Windmühlen und ein paar armselige Steinunterkünfte, in denen wir Hirten uns verkriechen. Doch unten am Strand gibt es große Bauerndörfer und Kirchen und Pfarrhöfe und Fischerdörfer und eine ganze Stadt.«
Er sah den anderen fragend an. Der hatte aufgehört zu essen und knüpfte gerade seinen Proviantbeutel zu. »Ich frage mich, worauf du mit alledem hinaus willst«, sagte er.
»Ja, ich möchte nur eins wissen«, sagte der Schäfer und senkte die Stimme fast bis zum Flüstern, während seine kleinen Augen in den Nebel blickten, müde vom Spähen nach allem, was es nicht gibt, »ich möchte nur wissen, ob die Bauern, die in den viereckigen Höfen unterhalb der Strandwälle wohnen, oder die Fischer, die den Strömling aus dem Meer holen, oder die Kaufleute in Borgholm oder die Badegäste, die jeden Sommer herkommen, oder die Reisenden, die in den Ruinen von Schloss Borgholm herumstreifen, oder die Jäger, die hier im Herbst Rebhühner jagen, oder die Maler, die auf der Kalksteinebene sitzen und die Schafe und die Windmühlen malen – ich möchte gern wissen, ob einer von ihnen versteht, dass diese Insel einmal ein Schmetterling war, der mit großen, schimmernden Flügeln über das Meer geflogen ist.«
»O doch«, sagte der junge Schäfer plötzlich, »von denen, die abends am Rand des Strandwalls saßen und die Nachtigallen im Gebüsch der Wiese schlagen hörten und auf den Kalmarsund schauten, dürfte es wohl manch einem aufgegangen sein, dass diese Insel nicht auf dieselbe Art entstanden sein kann wie die anderen.«
»Ich möchte wissen«, fuhr der Alte fort, »ob wohl ein Einziger den Wunsch verspürt hat, die Windmühlen mit so großen Flügeln zu versehen, dass sie bis in den Himmel reichten und imstande wären, die ganze Insel aus dem Meer zu heben, damit sie fliegen könnte wie ein Schmetterling unter Schmetterlingen.«
»Vielleicht ist an deinen Worten etwas dran«, entgegnete der Jüngere, »denn in den Sommernächten, wenn sich der Himmel hoch und riesig über der Insel wölbt, da ist es mir manchmal so vorgekommen, als wollte sich die Insel aus dem Meer erheben und davonfliegen.«
Doch als der Alte den Jungen nun endlich zum Reden gebracht hatte, hörte er ihm kaum zu. »Ich möchte so gern wissen«, sagte er noch leiser, »ob jemand erklären kann, warum über der Kalksteinebene so eine Sehnsucht liegt. Ich habe sie alle Tage meines Lebens empfunden, und ich glaube, dass sie einem jeden, der sich hier aufhält, ins Herz dringt. Ich möchte wissen, ob denn kein anderer verstanden hat, woher all dieses Sehnen kommt – nämlich daher, dass die ganze Insel ein Schmetterling ist, der sich nach seinen Flügeln sehnt.«
Die Kleine Karlsinsel
Der Sturm
Freitag, den 8. April
Die Wildgänse hatten die Nacht auf der nördlichen Spitze von Öland verbracht und waren nun, mit guter Geschwindigkeit, unterwegs zum Festland. Doch als sie sich den ersten Schären näherten, hörten sie ein gewaltiges Dröhnen, als kämen viele Vögel mit kräftigen Flügelschlägen geflogen, und plötzlich wurde das Wasser unter ihnen vollkommen schwarz. Akka hielt so schnell ihre Flügel an, dass sie fast in der Luft stehen blieb. Dann ging sie tiefer, um sich auf der Meeresfläche niederzulassen. Doch noch ehe die Wildgänse das Wasser erreichten, war der Weststurm heran. Er jagte Staubwolken, salzigen Schaum und kleine Vögel vor sich her, riss nun auch die Wildgänse mit, warf sie durcheinander und trieb sie hinaus aufs Meer.
Es war ein entsetzlicher Sturm. Immer wieder versuchten die Wildgänse, auf ihren Kurs zurückzukehren, doch sie schafften es nicht und gerieten nur noch weiter hinaus. Schon waren sie an Öland vorbeigetrieben, und das Meer lag leer und öde vor ihnen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Flügel anzuziehen und sich vom Sturm treiben zu lassen.
Als es Akka klar wurde, dass der Kurs nicht zu halten war, wollte sie wenigstens verhindern, dass sie über die ganze Ostsee gejagt würden, und ließ sich deshalb auf dem Wasser nieder. Der Seegang wurde mit jedem Augenblick heftiger, die Wellen waren seegrün und gischtgekrönt, eine türmte sich höher auf als die andere. Sie schienen einen Wettstreit auszutragen, wer von ihnen am höchsten steigen und am wildesten schäumen könnte. Aber die Wildgänse fürchteten sich nicht vor ihrem Schwall, im Gegenteil, sie schienen großen Spaß daran zu finden. Sie brauchten nicht zu schwimmen, sondern ließen sich einfach tragen, auf und ab, über Wellenkämme und durch Wellentäler, und freuten sich dabei wie Kinder auf einer Schaukel. Ihre einzige Sorge war, dass der Sturm die Schar zerstreuen könnte.
Doch die Wildgänse waren ganz und gar nicht in Sicherheit. Zum Ersten wurden sie durch die Schaukelei hoffnungslos müde. Ständig wollten sie den Kopf zurücklegen, den Schnabel unter den Flügel stecken und schlafen. Doch nichts ist gefährlicher, als auf diese Weise einzunicken, und Akka rief unaufhörlich: »Schlaft nicht, Wildgänse! Wer einschläft, wird von der Schar abgetrieben. Wer von der Schar abgetrieben wird, der ist verloren.«
Der Sturm tobte den ganzen Tag und richtete unter den Unmengen von Vögeln, die zu dieser Jahreszeit auf Reisen waren, furchtbaren Schaden an. Einige wurden weit weg in ferne Länder gejagt, wo sie verhungerten, andere ermatteten so sehr, dass sie ins Meer fielen und ertranken, und viele wurden an den Felswänden der Ufer zerschmettert.
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