Doch als der Junge am nächsten Morgen am Strand Muscheln suchte, kamen die Wildgänse gelaufen und fragten ihn, ob er den Gänserich gesehen habe.
Nein, das hatte er nicht. Jetzt war der Gänserich also wieder verschwunden. Er hatte sich im Nebel verirrt wie am Tag zuvor.
Den Jungen packte ein großes Entsetzen, und sofort machte er sich ans Suchen. Doch er konnte den Gänserich nicht finden, und als es Abend wurde und er zum Strand zurückkehren musste, war er davon überzeugt, dass sein Reisekamerad verloren sei.
Auf einmal glaubte er in einem Steinhaufen eine Bewegung zu bemerken. Er schlich sich näher heran und entdeckte nun den Gänserich, der, den Schnabel voll langer Wurzelfasern, mühsam den Steinhaufen erklomm. Er sah den Jungen nicht, und der rief ihn auch nicht an, sondern wollte erst einmal herausbekommen, warum der Gänserich immer wieder verschwand.
Bald erfuhr er den Grund. Auf dem Steinhaufen lag eine junge Graugans, die einen Freudenschrei ausstieß, als sich der Gänserich näherte. Der Junge schlich sich noch dichter heran, um ihr Gespräch zu belauschen. Da hörte er nun, dass die Graugans den einen Flügel nicht bewegen konnte, dass ihre Schar ohne sie abgereist war und sie allein zurückgelassen hatte. Sie war dem Hungertod nahe gewesen, doch am Tag zuvor hatte der Gänserich ihre Rufe gehört und sie aufgesucht. Seitdem versorgte er sie ständig mit Nahrung. Obwohl beide gehofft hatten, die Graugans würde vor der Abreise des Gänserichs genesen, konnte sie bis jetzt weder fliegen noch laufen. Darüber war sie sehr traurig, aber der Gänserich tröstete sie mit der Versicherung, er werde noch lange hierbleiben. Schließlich wünschte er ihr eine gute Nacht und versprach, am nächsten Tag wiederzukommen.
Der Junge ließ den Gänserich davonziehen, und sobald dieser außer Sicht war, kletterte er leise auf den Steinhaufen. Er wollte dieser Graugans sagen, dass der Gänserich ihn nach Lappland bringen müsse. Es komme überhaupt nicht in Frage, dass er ihretwegen hierbleiben dürfe. Doch als er die junge Gans nun aus der Nähe sah, verstand er, warum ihr der Gänserich zwei Tage lang Futter gebracht hatte. Sie hatte ein wunderschönes Köpfchen, seidenweiche Federn und sanfte, flehende Augen.
Als sie den Jungen erblickte, versuchte sie wegzulaufen. Aber ihr linker Flügel war ausgerenkt und schleifte über den Boden, so dass sie in allen Bewegungen behindert war.
»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagte der Junge und war gar nicht verärgert. »Ich bin Däumling, der Reisekamerad von Gänserich Martin«, fuhr er fort.
Tiere können manchmal etwas an sich haben, dass man sich fragt, ob sie nicht verwandelte Menschen sind. So ähnlich verhielt es sich mit der Graugans. Sowie sich der Däumling vorgestellt hatte, neigte sie sehr anmutig Hals und Kopf und sagte mit einer so lieblichen Stimme, dass man nicht glauben konnte, eine Gans zu hören: »Ich freue mich sehr, dass du hergekommen bist, um mir beizustehen. Der weiße Gänserich hat mir erzählt, dass niemand so klug und gut ist wie du.«
Das sagte sie mit einer solchen Würde, dass der Junge richtig verlegen wurde. »Das kann doch wohl kein Vogel sein«, dachte er. »Das ist bestimmt eine verzauberte Prinzessin.«
Jetzt wollte er ihr wirklich gern helfen und steckte seine kleinen Hände unter ihre Federn, um den Flügelknochen abzutasten. Der war zwar nicht gebrochen, doch mit dem Gelenk war etwas nicht in Ordnung. Sein Finger spürte, dass die Gelenkhöhle leer war. »Gib acht!«, sagte er, packte den Knochen mit festem Griff und fügte ihn dort ein, wo er sitzen sollte. Er machte seine Sache recht flink und gut, doch die arme Junggans schrie gellend auf und sank zwischen die Steine, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben.
Der Junge bekam einen furchtbaren Schreck. Da hatte er ihr helfen wollen, und jetzt war sie tot. Mit einem langen Satz sprang er vom Steinhaufen und lief davon.
Am nächsten Morgen hatte sich der Nebel verzogen, die Luft war klar, und Akka gab das Zeichen zum Aufbruch. Alle anderen waren dazu bereit, nur der weiße Gänserich machte Einwände. Doch Akka hörte nicht auf ihn, sondern flog los.
Der Junge sprang dem Gänserich auf den Rücken, und der Weiße folgte der Schar, obgleich langsam und unwillig. Der Junge war sehr froh, dass sie von der Insel aufbrachen. Er hatte Gewissensbisse wegen der Graugans. Gleichzeitig wunderte er sich, dass es der Weiße übers Herz brachte, sie zu verlassen.
Plötzlich aber machte der Gänserich kehrt. Die Sehnsucht nach der jungen Gans hatte ihn überwältigt. Aus der Lapplandreise mochte werden, was wollte. Er konnte nicht mitfliegen, wenn er wusste, dass sie krank und einsam dalag, dem Hungertod preisgegeben.
Mit ein paar Flügelschlägen hatte er den Steinhaufen erreicht. Doch zwischen den Steinen lag keine graue Junggans mehr.
»Daunenfein! Daunenfein! Wo bist du?«, rief der Gänserich.
»Sicher hat der Fuchs sie geholt«, dachte der Junge. Doch im selben Moment hörte er eine liebliche Stimme dem Gänserich antworten: »Hier bin ich, Gänserich, hier bin ich! Ich habe nur ein Morgenbad genommen.« Und aus dem Wasser kam die kleine Graugans, gesund und munter, und erzählte, der Däumling habe ihren Flügel eingerenkt. Sie sei nun völlig genesen und bereit, an der Reise teilzunehmen.
Die Wassertropfen auf ihren seidig schimmernden Federn glänzten wie Perlen, und wieder dachte der Däumling, dass sie eine richtige kleine Prinzessin sei.
Mittwoch, den 6. April
Die Gänse flogen an der langgestreckten Insel entlang, die deutlich unter ihnen sichtbar war. Der Junge erkannte nun, dass sie im Inneren aus einer kahlen Hochebene bestand, mit einem breiten Kranz von gutem, fruchtbarem Land an den Küsten. Da wurde ihm der Sinn einer Erzählung klar, die er am Abend zuvor gehört hatte.
Er hatte gerade an einer der vielen Windmühlen auf der Hochebene gesessen und sich ausgeruht, da waren zwei Schäfer mit ihren Hunden und einer großen Schafherde im Gefolge herangezogen. Der Junge hatte keine Angst gehabt, denn unter der Treppe der Mühle war er gut versteckt. Doch nun ergab es sich, dass die Hirten auf eben dieser Treppe Platz nahmen. Da blieb dem Jungen nichts weiter übrig, als sich still zu verhalten.
Der eine Schäfer war jung und sah aus wie die meisten Leute. Der andere aber war ein seltsamer alter Kauz. Er hatte einen großen, knochigen Körper, jedoch einen kleinen Kopf und weiche, sanfte Gesichtszüge. Es schien, als wollten Körper und Kopf überhaupt nicht zusammenpassen.
Als er eine Weile stumm dagesessen hatte, begann er mit seinem Kameraden ein Gespräch. Dieser holte Brot und Käse aus seinem Beutel und machte sich an seine Abendmahlzeit. Er antwortete kaum, hörte jedoch sehr geduldig zu.
»Jetzt will ich dir etwas erzählen, Erik«, sagte der alte Schäfer. »Mir ist der Gedanke gekommen, dass in früheren Zeiten, als Menschen und Tiere viel größer waren als heutzutage, wohl auch die Schmetterlinge eine ganz unglaubliche Größe erreichten. Und da gab es einmal einen Schmetterling, der war viele Meilen lang, und seine Flügel waren breit wie Seen. Sie waren blau und silberglänzend und so prächtig, dass ihm alle anderen Tiere nachschauten, wenn er durch die Luft flog.
Natürlich war es für ihn ein Nachteil, dass er zu groß war. Die Flügel konnten ihn nur mit Mühe tragen. Doch alles wäre noch gut gegangen, wäre er nur so klug gewesen und über dem Land geblieben. Das aber tat er nicht, sondern er begab sich hinaus auf die Ostsee. Und er war gar nicht weit geflogen, da kam ihm der Sturm entgegen und zerzauste ihm die Flügel. Ja, Erik, es lässt sich leicht vorstellen, was passieren musste, als der Ostseesturm die zarten Schmetterlingsflügel in die Finger bekam. Es dauerte nicht lange, da waren sie ausgerissen und davongewirbelt, und der arme Schmetterling fiel natürlich ins Meer. Zuerst schleuderten die Wellen ihn hin und her, dann warfen sie ihn auf ein paar Klippen vor Småland, und da blieb er liegen, in seiner ganzen Größe und Länge.
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