»Da sollten Sie nicht so sicher sein, Herr Ermenrich«, sagte Akka. »Ich kenne eine alte Wildgans, die hätte schon Lust, derartige Freveltaten zu verhindern.«
Als Akka diese Worte sprach, hob der Storch den Kopf und sah sie mit großen Augen an. Das war auch kein Wunder, denn die alte Akka hatte weder Schnabel noch Klauen, die zum Kämpfen taugten. Außerdem war sie ein Tagvogel, und sobald die Dämmerung hereinbrach, schlief sie unweigerlich ein, während die Ratten ihre Kämpfe gerade in der Nacht ausfochten.
Doch Akka war offenbar fest entschlossen, den schwarzen Ratten beizustehen. Sie rief Yksi von Vassijaure und befahl ihm, die anderen zum Vombsee zu führen, und als die Gänse Einwände machten, sagte sie gebieterisch: »Ich glaube, es ist für uns alle am besten, wenn ihr mir gehorcht. Ich muss zu dem großen Steinhaus fliegen, und wenn ihr mitkommt, dann werden uns die Leute vom Hof ganz bestimmt sehen und abschießen. Der Einzige, den ich auf dieser Reise bei mir haben will, ist der Däumling. Er kann mir von großem Nutzen sein, denn er hat gute Augen und kann sich nachts wachhalten.«
Als der Junge Akkas Worte hörte, machte er sich so groß, wie er nur konnte, legte die Hände auf den Rücken, reckte die Nase in die Höhe und trat vor. Doch sowie der Storch den Jungen erblickte, geriet er in Bewegung. Bis dahin hatte er nur dagestanden, nach Art der Störche, den Kopf gesenkt und den Schnabel an den Hals gedrückt. Jetzt aber ertönte tief in seiner Kehle ein Gurgeln, als würde er lachen. Er packte den Jungen blitzschnell mit dem Schnabel und warf ihn ein paar Meter in die Luft. Dieses Kunststück wiederholte er siebenmal, während der Junge schrie und die Gänse riefen: »Was tun Sie da, Herr Ermenrich? Das ist kein Frosch. Das ist ein Mensch, Herr Ermenrich!«
Endlich setzte der Storch den Jungen auf den Boden, zum Glück unversehrt. Dann sagte er zu Akka: »Ich fliege jetzt zurück nach Glimmingehus, Mutter Akka. Alle, die dort wohnen, waren bei meiner Abreise in großer Angst. Aber sie werden sich schon beruhigen, wenn ich ihnen berichte, dass Sie und der Däumling herbeieilen, um sie zu retten.«
Dann reckte der Storch den Hals, schlug mit den Flügeln und schoss davon wie ein Pfeil von einem straffgespannten Bogen. Obwohl Akka wusste, dass er sich über sie lustig gemacht hatte, ließ sie sich nicht davon anfechten. Sie wartete, bis der Junge seine Holzschuhe wiederfand, die der Storch ihm abgeschüttelt hatte, setzte ihn dann auf ihren Rücken und flog hinter dem Storch her. Der Junge hatte sich so über den Storch geärgert, dass er vor Wut schnaubte. Diesem langen Rotbein wollte er schon zeigen, was Nils Holgersson aus West-Vämmenhög für ein Kerl war!
Ein paar Augenblicke später stand Akka im Storchennest von Glimmingehus. Es war groß und prächtig, hatte als Unterlage ein Rad und darüber mehrere Schichten aus Zweigen und Grasbüscheln. Weil es so alt war, hatten viele Büsche und Kräuter schon Wurzeln geschlagen, und wenn die Storchenmutter in der runden Vertiefung in der Mitte auf ihren Eiern saß, konnte sie sich nicht nur an der herrlichen Aussicht über einen großen Teil von Schonen erfreuen, sondern auch Heckenrosen und Hauslauch betrachten.
Beide, der Junge und Akka, erkannten, dass hier etwas Ungewöhnliches vor sich ging und jegliche Ordnung außer Kraft setzte. Auf dem Rand des Storchennestes hockten nämlich zwei Waldkäuze, eine alte, graugestreifte Katze und ein Dutzend uralter Ratten mit schiefgewachsenen Zähnen und triefenden Augen, Tiere also, die man sonst nicht eben friedlich beieinander sieht.
Keines von ihnen wandte sich Akka zu oder hieß sie willkommen. Sie waren voll und ganz damit beschäftigt, ein paar lange graue Linien anzustarren, die auf den winternackten Feldern sichtbar wurden.
Alle schwarzen Ratten verhielten sich still. Sie wussten wohl, dass sie weder ihr Leben noch die Burg verteidigen konnten. Die beiden Waldkäuze verdrehten ihre großen Augen mit den Federkränzen und berichteten mit ihren schaurigen, scharfen Stimmen von der großen Grausamkeit der grauen Ratten. Sie mussten nun ihr Nest verlassen, weil diese Neuankömmlinge weder Eier noch frischgeschlüpfte Junge schonten. Die alte, gestreifte Katze war davon überzeugt, dass die grauen Ratten, wenn sie in so großer Zahl in die Burg eindrangen, sie totbeißen würden, und sie beschimpfte die schwarzen Ratten unaufhörlich: »Wie konntet ihr nur so dumm sein und eure besten Krieger davonziehen lassen! Wie konntet ihr den grauen Ratten nur vertrauen! Das ist überhaupt nicht zu verzeihen!«
Die zwölf schwarzen Ratten erwiderten darauf kein Wort, aber der Storch konnte es trotz seines Kummers nicht lassen, die Katze zum Narren zu halten. »Fürchte dich nicht, Hauskatze Måns!«, sagte er. »Siehst du nicht, dass Mutter Akka und der Däumling gekommen sind, um die Burg zu retten? Du kannst gewiss sein, dass es ihnen gelingen wird. Ich muss mich jetzt zum Schlafen aufstellen, und ich tu es ganz unbesorgt. Wenn ich morgen früh aufwache, wird es auf Glimmingehus bestimmt keine einzige graue Ratte geben.«
Der Junge zwinkerte Akka zu und bedeutete ihr, dass er den Storch hinunterstoßen wolle, wenn der sich nun auf den äußersten Rand des Nestes, ein Bein hochgezogen, zum Schlafen aufstellte, doch Akka hielt ihn zurück. Sie wirkte ganz und gar nicht verärgert und sagte in zufriedenem Ton: »Es wäre wohl übel bestellt, wenn man in meinem Alter nicht mit schwierigeren Situationen als dieser fertigwürde. Wenn Sie, Herr Waldkauz und Frau Waldkauz, nur ein paar Besorgungen für mich erledigen möchten, wo Sie sich doch die ganze Nacht wachhalten können, dann wird schon alles gut gehen, denke ich.«
Das wollten die beiden Käuze gern tun, und nun bat Akka den Kauzmann, die schwarzen Ratten, die zum Kullaberg gezogen waren, aufzusuchen und ihnen zu raten, schleunigst nach Glimmingehus zurückzukehren. Die Kauzfrau schickte sie zu Flammea, der Schleiereule, die im Dom von Lund zu Hause war, und gab ihr einen so geheimen Auftrag mit, dass sie ihn nur im Flüsterton anzuvertrauen wagte.
Nach langem Suchen gelang es den grauen Ratten kurz vor Mitternacht, eine offene Kellerluke aufzuspüren. Sie befand sich ziemlich hoch in der Mauer, doch bald sprang die tapferste Ratte hinein, mit der Absicht, Glimmingehus zu bestürmen, vor dessen Mauern so viele ihrer Vorfahren ihr Leben gelassen hatten.
Die graue Ratte blieb eine Weile in der Luke sitzen und wartete auf einen Angriff der Verteidiger. Sie nahm an, dass sich die schwarzen Ratten, die in der Burg geblieben waren, nicht ohne Kampf ergeben würden. Mit klopfendem Herzen lauschte sie auf das leiseste Geräusch, doch alles blieb still. Da fasste sie Mut und sprang in den kohlrabenschwarzen Keller.
Eine Ratte nach der anderen folgte der Anführerin. Alle bewegten sich geräuschlos, alle rechneten mit einem Hinterhalt der schwarzen Ratten.
Obwohl sie noch nie in diesem Gebäude gewesen waren, fanden sie sich ohne Schwierigkeit zurecht. Sie entdeckten die Gänge im Mauerwerk, mit deren Hilfe die schwarzen Ratten in die oberen Stockwerke gelangten. Bevor sie diese engen, steilen Stiegen erklommen, horchten sie wieder mit großer Aufmerksamkeit. Sie hätten sich vor einem offenen Kampf mit den schwarzen Ratten viel weniger gefürchtet als jetzt, wo diese sich versteckt hielten.
Schon am Eingang des ersten Stocks verspürten sie den Geruch des Getreides, das in großen Haufen auf dem Fußboden lag. Doch noch war es nicht Zeit, die Früchte des Sieges zu genießen. Sie durchsuchten zuerst mit größter Sorgfalt die düsteren, kahlen Räume und machten sich dann mit derselben Vorsicht an die Eroberung des nächsten Stockwerks. Wieder mussten sie eine mühselige, gefährliche Kletterpartie durch das Mauerwerk unternehmen, während sie atemlos vor Angst darauf warteten, dass sich der Feind auf sie stürzte. Obwohl die Getreidehaufen mit den herrlichsten Düften lockten, beherrschten sie sich und untersuchten so gründlich wie möglich den ehemaligen Raum der Soldaten mit seinen Pfeilern, dem steinernen Tisch und dem Kamin.
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