»Ah, warte«, stieß Ira plötzlich hervor, anscheinend glücklich, doch noch etwas gefunden zu haben. »Du wirst es nicht glauben, aber allem Anschein nach ist der kleine Soldat doch kein unbegabter Reaper, der nur mit großen Waffen umgehen kann.«
Ich steuerte meinen Wagen bereits auf die großzügige Einfahrt, während ich wie gebannt ihrer Stimme lauschte.
»Seine magischen Fähigkeiten, sein gesamter Werdegang, einfach alles ist zur absoluten Verschlusssache erklärt worden. Da kommst nicht einmal du dran. Obwohl du mittlerweile Sicherheitsoffizier bist, sonder nur ...«
Ich vollendete den Satz meiner Freundin, während ich bereits meine Handtasche nahm und mit zusammengebissenen Zähnen in den Rückspiegel blickte.
»... die Chefinnen der Zirkel.«
Wie jedes andere Land mit großen Zirkeln, war auch Amerika in vier Divisionen aufgeteilt. Vier Chefinnen in diesem Land hatten also Einsicht in seine Akte. Was konnte so wichtig an ihm sein, dass nur die oberste Führungsriege seine Daten wissen durfte? Dass er kein ganz normaler Reaper war, mit minderen magischen Fähigkeiten, war mir spätestens bewusst, als er in meine Gedanken eingedrungen war. Doch wie gut konnte er wirklich sein?
Als die Wohnungstür sich geräuschlos öffnete und den Blick in mein Appartement freigab, die Kühle mir entgegenströmte und zärtlich über mein Gesicht fuhr, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich in wenigen Stunden bereits meine Arbeit in der Nachtschicht wieder aufnehmen musste. Doch ich konnte nicht anders, als an den immer geheimnisvoller werdenden Mann zu denken, dessen dunkle Augen mehr Fragen aufwarfen, als mir lieb war. An diesem späten Nachmittag kuschelte ich mich in die herrlich kühlende Seidenbettwäsche und meine Gefühle überschwemmten mich. Hass und Unverständnis vermischten sich wie die Farben auf einem Bild mit Lust und Begierde. Zu unreal schien dieses Gefühl zu sein, zu unwirklich diese Gedanken, die meinen Geist nicht zur Ruhe kommen lassen wollten. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich Gedanken nicht lesen, nicht wissen, was dieser Mann fühlte, was er dachte und was er begehrte. Doch was noch schlimmer war: Zum ersten Mal konnte ich etwas, das ich unbedingt wollte, nicht haben – und genau das machte mich wahnsinnig!
Erst die Arbeit ...
In den ersten Augenblicken, in denen man erwacht, ist alles gut. Die Bettwäsche lag wie eine schützende Hülle über meinem entspannten Körper und hatte genau die richtige Temperatur, um mich einfach weiterschlafen zu lassen. Meine Atmung war ruhig und der undurchsichtige Schleier, der mich beim ersten Augenaufschlag umgab, hatte etwas Besinnliches. Und dann erwachte der Geist. Unbarmherzig schlägt der Kopf mit aller Macht zu und verdrängt alles Schöne und Angenehme mit den verschlingenden Überlegungen, welche man im Schlaf vergessen konnte.
Es war bereits kurz vor Dienstbeginn, als ich aus der Dusche stieg. Durch die feuchten Nebelschwaden suchten meine Finger ein Handtuch, das ich mir mit geschickten Griffen um die Haare schlang. Der Spiegel war beschlagen. Meine Zukunft schien wie dieses Spiegelbild. Ich wusste, dass ich es bin, aber mein Antlitz selbst war hinter dieser undurchsichtigen Wand verborgen.
Ich hatte genug. Mit schnellen Zügen wischte ich über den Spiegel, spürte die Feuchtigkeit an meiner Hand und sah mir selbst in die Augen. Im weißen Schein drang das helle Grün, das mich anfunkelte, noch mehr durch. Wie bei einem exotischen Frosch oder den frühen Bildern von Monet stach es mir entgegen.
Wortlos schrie ich mich selbst an, fixierte mich und brachte mich selbst wieder zur Raison.
Reiß dich zusammen, Isabelle. Es gibt Wichtigeres, als diesen Typen.
Mehrmals atmete ich dabei aggressiv, als müsste ich der jungen Frau im Spiegelbild Angst einjagen. Mein Gesicht ging wie von selbst nach vorn, sodass ich die Kühle des Glases ganz nahe spüren konnte.
Scheiß auf ihn! Konzentriere dich auf deine Arbeit. Du bist jetzt Sicherheitsoffizier, hast die Verantwortung für den Zirkel und die jungen Hexen ...
Meine eigene Ansprache wurde von Britney Spears »Circus« unterbrochen, das von meinem Handy im Wohnzimmer ertönte. Nur mit dem Handtuch auf dem Kopf tappte ich durch die Wohnung und nahm das Telefonat entgegen.
Ohne Umschweife oder den Ansatz einer Begrüßung feuerte meine Chefin los. Eigentlich nicht ihre Art, aber es schien jetzt bereits im Zirkel hoch her zu gehen.
»De la Crox am Apparat. Haben Sie noch ihre Kontakte, Miss Ashcroft?« Wenn sie ihre Anrede so wählte, war sie nicht allein.
»Ja, Madame.«
»Befragen Sie sie!«
»Ja, Madame.«
»Und Miss Ashcroft ... Passen Sie auf sich auf!«
»Ja, Madame.«
Keine Zeit für Geplänkel. Ihre Stimme war seltsam angespannt, als ob ihr die absolute Sicherheit fehlen würde, das Problem in dieser Nacht bewältigen zu können. Das Telefonat bestätigte meine Vermutungen und machte mir auf unmissverständliche Weise klar, dass dieser Nikolai doch kein Wald- und Wiesendämon war und dem Zirkel mehr Ärger bereiten konnte, als de la Crox zugeben wollte.
Schnell warf ich mich in die Uniform und legte ein dezentes Make-up auf. Ich entschloss mich dazu, meine Haare erst zu föhnen, dann in einen lockeren Zopf zu binden. Bevor ich die Wohnung verließ, noch etwas Parfüm – ein wenig hinter die Ohren und auf den Venushügel. Schließlich war es sozusagen eine Dienstanweisung, Informationen zu besorgen.
Die Nacht hatte den Tag beinahe abgelöst. Golden und wunderschön war ihr orangefarbener Kampf, den die Menschen Dämmerung nannten, entbrannt. Wobei der Sieger, wie an jedem Abend, der Gleiche war. Auch die Hitze war einer wohligen Wärme mit einem leichten Wind gewichen, der eine angenehme Brise in die Stadt hereintrug.
***
Als mein Wagen aufheulte und ich mir den Weg in die City bahnte, ging ich im Kopf die weitere Vorgehensweise des Abends durch. Die Ankunft eines so mächtigen Dämons wie Nikolai dürfte hohe Wellen geschlagen haben. Die Frage war nur, wer war mutig oder dumm genug, mir irgendetwas zu erzählen, was der Zirkel mit seinen unzähligen Quellen und Spionen noch nicht wusste. In jeder größeren Stadt gab es eine gewisse Anzahl von harmlosen Dämonen, die von uns toleriert wurden. Dann gab es solche, die auffielen und Ärger machten, das waren die Gefährlichen, um die sich der Zirkel so schnell wie möglich kümmern musste, damit die Menschen mit ihrem kleinen Seifenblasenleben weitermachen konnten. Und dann gab es Dämonen, wie dieser Nikolai einer war. Solche, die nicht auffielen, aber richtig viel Ärger machten. Es waren nicht die Wasserdämonen, die nachts aus dem Hudson krochen und Hunde unter Wasser zogen. Es waren auch nicht die lächerlich überschätzen Vampire, die ab und zu mal einen Obdachlosen rissen. Richtig gefährlich waren Dämonen, die im Hintergrund arbeiteten und ganze Armeen auf die Beine stellten.
Was hatte dieser Nikolai an sich, das meine Chefin, bei der sonst Eis durch die Adern floss, mich auf einmal mit zitternder Stimme warnen ließ? Nun, ich sollte dieses schleunigst herausfinden, doch meine erfolgversprechendste und auch angenehmste Adresse sollte ich mir für den späten Abend aufheben. Vielleicht war mein Kontakt dann etwas betrunkener und redseliger. Aber erst die Arbeit ...
***
Dass die schlechten Bezirke früher am Hafen waren, lag an den billigen Arbeitskräften, die dort hausten und die meiste Zeit auf See verbrachten. Ironischerweise hatte die Entwicklung in der Neuzeit einen genau umgekehrten Verlauf genommen. Die Upper West Side war nun die Topadresse mit Bars, schicken Büros und teuren Wohnungen, die sich an den Verlauf des Hudsons schmiegten.
Als ich meinen Wagen am Rande des Flusses abstellte, rauschte das Wasser gurgelnd vorüber und schickte mir seinen typisch maritimen Duft über die Brüstung. Auf einmal erfasste mich wieder ein Gefühl, eine Ahnung, etwas Unbehagliches, als ob mein Körper mir ein Signal senden würde, das ich nicht zuordnen konnte. Mehrmals ließ ich meinen Blick über die jugendlichen Partygänger oder die älteren Bummler schweifen. Nichts Ungewöhnliches, nur Leute, die den Abend begannen oder beendeten. Doch vor allem waren es nur Menschen. Ich schüttelte den Kopf über mich selbst und ging auf das Gebäude zu.
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