Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel „The Boat People“ im Verlag McClelland & Stewart, Toronto, Kanada.
Das Buch wurde gefördert vom Canada Council for the Arts, der Verlag dankt hierfür. We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts. Nous remercions le Conseil des arts du Canada de son soutien.
Deutsche Erstausgabe 2020
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten.
© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
www.mitteldeutscherverlag.deCopyright © 2018 by Sharon Bala Translated from the English language: THE BOAT PEOPLE First published in Canada by: McClelland & Stewart, a division of Penguin Random House Canada Limited, Toronto
Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
Lektorat: Elisabeth Müller, Friedberg (Hessen)
Umschlagabbildung: © Boyan Dimitrov – shutterstock.com
ISBN 978-3-96311-269-0
Printed in the EU
Dieses Buch ist für meine Eltern,
Mohan und Swarna Bala.
WIE ES ANFING
INSCHALLAH, MR. GIGOVAZ
FROH, HIER ZU SEIN
TERORISTEN RAUS!
EIN GUTES LAND
VERHANDLUNGEN
FAMILIENGESCHÄFT
NEBENVORSTELLUNG
RAMAS LIED
DIE NATUR DER DINGE
GODFATHER
NEUE WELT
LASS DAS VERGANGENE RUHEN
RECHT UND ORDNUNG
WAS WISSEN DIE?
THALI
RUHE UND FRIEDEN
EIN EIGENES LAND
ZURÜCK IN DIE HÖLLE
TRAUST DU UNS DENN NICHT?
WAS KANN MAN DA MACHEN?
DER GLÜCKLICHSTE TAG
AUFTRAG
JEOPARDY
WARUM SIND SIE HIER?
DER DUMME
WILLKOMMEN IM WINTER
MOTTENKUGELN
FEINDLICHE AUSLÄNDER
AUGENZEUGEN
SALOMON
GANESCHA SCHLÄGT RAD
SCHATZGRÄBER
MUSTERMIGRANT
BESITZURKUNDE
FARBE BEKENNEN
WAHRHEIT ODER LÜGE
DIE ÄRZTIN
RICHTER, SCHÖFFE, HENKER
KEIN RECHT AUF UNSER LAND
EIN AFFRONT
LIONS UND TIGERS
EIN FREIES LAND
WEITERKÄMPFEN
NOTPOLSTER
EINES TAGES
ALTER KÖDER
ICH WILL SPRECHEN UND GEHÖRT WERDEN
ANMERKUNGEN DER AUTORIN
DANKSAGUNG
Wir mögen auf verschiedenen Schiffen gekommen sein, aber jetzt sitzen wir alle im selben Boot.
— Martin Luther King Jr.
Mahindan lag flach auf dem Rücken, als die Schreie losgingen. Mit angewinkeltem Arm bedeckte er die Augen. Er hörte das Pfeifen, den dumpfen Aufschlag von Granaten, die Hilferufe der Sterbenden. Kugeln und Raketen, die Welt stand in Flammen.
Dann ein anderes Geräusch. Es kam kreischend durch das Getöse, so dass es eine ewige Sekunde lang nichts gab, nur ihn und seinen Sohn und die Bombe, die sich mit todbringendem Schrei in hohem Bogen durch den Himmel bohrte, direkt auf sie zu. Sosehr er sich anstrengte, Mahindan bekam die Augen nicht auf. Seine Glieder waren fest an den Boden geheftet, tonnenschwer. Er versuchte, sich zu bewegen, zu schreien, aufzuspringen und wegzulaufen. Die Erde dröhnte. Die Bombe explodierte und spuckte eine Wolke glühender Metallfetzen in die Luft. Das Zelt war zerrissen, mittendurch. Mahindan war hellwach, mit einem Schlag.
Sein Herz hämmerte wild. Gepackt von rasender Angst setzte er sich auf und blinzelte in die Dunkelheit. Er hörte, wie jemand fauchte und prustete, merkte dann aber, dass er es selber war. Das Pfeifen fliegender Granatsplitter ließ nach, und er kehrte zurück in die Gegenwart, zur Kokosmatte unter sich, zurück in den Rumpf des Schiffes.
Da schnarchten und schnüffelten sie, da gab es die kleinen Nachtgeräusche von fünfhundert schlafenden Körpern. Tief unten das monotone Surren der Schiffsmotoren. Instinktiv griff er nach Sellian, seinem Sohn, fand ihn fest an seine Seite gedrängt, dann legte er sich wieder hin. Der Schweiß stand ihm im Nacken. Immer noch raste sein Puls. Er roch die säuerliche Ausdünstung seiner eigenen Haut, den rohen Tiergestank der Körper um ihn herum. Der Mann auf der Matte neben ihm schlief mit offenem Mund. Er schnarchte laut wie ein dröhnendes Motorrad, so nah, dass Mahindan den ausgestoßenen warmen Atem fast spüren konnte.
Er legte die Hand auf Sellians Rücken und fühlte, wie er sich hob und senkte. Allmählich wurde sein eigener Atem ruhiger und bewegte sich schließlich im gleichen Rhythmus. Er strich seinem Jungen durch das feine, seidige Haar, den weichen Schopf eines Kindes, dann streichelte er seinen Arm, fühlte die raue Haut, die langen, dünnen Kratzer, die verkrusteten Insektenbisse. Sellian war ein schmächtiges Kind, sechs Jahre alt und kaum einen Meter groß. Wie wenig Platz dieses Kind einnahm, so in sich zusammengerollt, den Daumen im Mund. Wie verletzlich sein Leben doch war, wie prekär sein Überleben, eigentlich ein Wunder.
Mahindans Augen hatten sich dem Dunkel angepasst und konnten nun Umrisse und Formen erkennen. Das klapprige Geländer beiderseits der Leiter. Lampen, aufgereiht an einem Elektrokabel. Außerhalb des Bullauges war es noch stockdunkel.
Behutsam, um Sellian nicht zu wecken, stand er auf. Vorsichtig stieg er über die auf dünnen Matten zusammengedrängten Körper, duckte sich unter den in schwankenden Hängematten reglos Schlafenden, tastete sich von einer Seite des Schiffs zur anderen bis hin zur Leiter. Es war heiß und drückend, die Luft zum Ersticken.
Hemas Zopf lag lang und dick auf dem schmutzigen Boden. Mahindan bückte sich, hob ihn auf und legte ihn im Vorübergehen sanft auf ihren Rücken. Ihre beiden Töchter schliefen neben ihr auf derselben Matte. Sie lagen einander zugewandt auf der Seite, Kopf an Kopf, Knie an Knie. Ein paar Meter weiter kam er zu dem Mann mit dem amputierten Bein und wandte die Augen ab.
Bei Tag ging es laut her auf dem Schiff, aber jetzt hörte er nur, wie das Elektrokabel gegen die Wand schlug, wie sie alle atmeten, ein und aus, und immer dieselbe verbrauchte, dieselverpestete Luft.
Ein Junge schrie im Schlaf auf, und als Mahindan sich umschaute, sah er, dass Kumurans Frau ihr alptraumgeplagtes Kind beruhigte. Mahindan hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest und stieg die Leiter nach oben aufs Deck. Dort angekommen, sog er das frische Aroma von Salz und Meer tief ein und fühlte sich unversehens leichter. Hoch über ihm knarrte der Mast. Mahindan blickte auf zu den Sternen und dem Appam-Halbmond, der warm am Himmel glühte. Beim Gedanken an Appam – leckeren Teig, frisch gebacken, direkt vom Feuer – meldete sich sein Magen mit hohl knurrender Anklage.
Es war dunkel, aber er kannte sich aus auf dem Schiff. Am Heck stand in ordentlicher Reihe ein Dutzend Plastikeimer. Er kauerte sich vor einem dieser Eimer hin und schöpfte mit beiden Händen das lauwarme, von Zweigen und Seetangbrocken verschmutzte Wasser, um sich Gesicht und Nacken zu erfrischen. Dabei spürte er, wie der Dreck auf seiner Haut kratzte.
Das Schiff – ein sechzig Meter langer, alter und schludrig für fünfhundert Passagiere umgebauter Frachter – schepperte durch das ruhige Wasser und stöhnte unter der Last von allzu schwerer menschlicher Fracht. Mahindan hielt sich an der Reling fest und strich mit einem Daumen über den abblätternden Rost.
Ein paar Leute waren nach draußen gekommen, schattenhafte Gestalten, die auf beiden Ebenen des Decks stumme Wacht hielten. Wochen oder auch Monate waren sie schon auf See, Sonnenauf- oder Sonnenuntergang waren kaum noch zu unterscheiden. Die Tage verbrachten sie an Deck unter einer Plane, die sie vor der Sonne schützen sollte, während der Boden unter ihnen brannte. In stürmischen Nächten, wenn das Schiff wild schwankte und schlingerte, flüchtete Sellian sich in Mahindans Schoß, und ihre Mägen kollerten hilflos im Gewühl des wutschäumenden Ozeans.
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