Sie klingelte, verstaute gleichzeitig Block und Stift in der Anoraktasche.
Das Licht in der Diele ging an. Sabine Kessler öffnete.
»Hallo? Ach, Frau Graukorn …«
Unsicher lugte die junge Frau durch den Türspalt. Peter Kessler hatte sie über ein Internetportal kennengelernt. Im Dorf war darüber getratscht worden. Sabine kam aus dem Steigerwald, das war kilometermäßig kein großes Ding, aber mental durchaus. Peter, der auch mit fast 40 noch keine abgekriegt hatte, lud sich eine viel jüngere Frau aus dem Netz runter. Hinter vorgehaltener Hand hatte man gefeixt. Bella betrachtete das müde Gesicht von Sabine Kessler.
»Einfach Bella. Ich schreibe für die Zeitung.«
»Ich weiß.« Sabine wischte sich über die Stirn. »Es ist so furchtbar.«
Irgendwo im Haus ertönte ein lang gezogener Klagelaut, der schnell in wütendes Gebrüll überging. »Mariella!!!«, plärrte eine Kinderstimme.
»Marlon haben wir natürlich nichts erzählt«, fuhr Sabine fort. »Er hängt so an Mariella!«
»Kann ich vielleicht reinkommen?«, bat Bella. »Es ist recht schattig draußen.«
»Ach so, ja.« Erschrocken über ihre eigene Unhöflichkeit trat Sabine beiseite. »Aber kein Wort zu Marlon! Wir haben ihm gesagt, Mariella musste für eine Weile nach Italien.«
»Ist Mariella gekommen?« Das Kind fegte in die Diele. Ein übergewichtiger Satansbraten mit intelligenten Augen und dem Durchsetzungsvermögen eines Mafiapaten.
»Nein, das ist Bella Graukorn.«
Zornig funkelte Marlon Bella an. »Wo ist Mariella?«
»Das weiß ich leider nicht«, sagte sie. Die Uhr lief. Sie brauchte ein paar emotionale Momentaufnahmen, mit denen sie ihren Artikel aufpeppen konnte. Die leidende Gastfamilie, das unzufriedene Kind, man weint um Mariella. So in der Art.
Marlon rutschte auf seinen Noppensocken durch die Diele, trommelte mit den Fäusten gegen die Wand.
»Im Dorf sagen sie, du hättest Mariella gefunden.«
»Ja, das stimmt.«
»Hat sie gelitten?«
»Sie war nicht mehr bei Bewusstsein. Wahrscheinlich wurde sie durch den Aufprall gleich so schwer verletzt, dass sie nichts mehr mitbekam.«
»Hoffentlich.«
»Sabine«, Bella legte der jungen Frau die Hand auf den Arm. »Ich muss dir das so offen sagen: Ich brauche ein bisschen Stoff für die Zeitung. Mariellas Bild ging an die Redaktionen. Man möchte herausfinden, was sie in den drei Stunden, nachdem sie das Haus verlassen hatte, gemacht hat. Bevor der Unfall passierte. Vielleicht hat sie ja jemand gesehen.«
Sabine nickte ergeben.
Marlon wandte sich um und watschelte zu den beiden Frauen.
»Seit wann lebte Mariella denn bei euch?«
»Seit Mitte Oktober.«
»Ich dachte, ihr hättet ein französisches Aupair gehabt.«
»Hatten wir auch, allerdings kam Emilie mit Marlon überhaupt nicht zurecht.«
Wundert mich nicht, dachte Bella, die zusehen musste, wie Marlon an der Jeans seiner Mutter riss. Der Fünfjährige entwickelte eine Heidenkraft, der seine zierliche Mutter kaum standhalten konnte.
»Ich will Mariella. Warum ist Mariella nicht hier? Und Lüneburg!«, kreischte Marlon.
»Lüneburg?«
»Der Beagle«, antwortete Sabine. »Er ist auch weg. Lass das, Marlon.«
»Ihr habt einen Hund?«
»Marlon wollte so gern einen.«
»Lüneburg ist mein Hund!«, trompete Marlon. »Meiner.«
Uff, dachte Bella. Wenn der Beagle genauso schwer erziehbar ist …
»Wir haben Lüneburg aus dem Tierheim geholt. Mariella mochte Hunde. Lüneburg ist drüben am Mainufer aufgefunden worden, er war verletzt, irgendwas an der Pfote, und niemand meldete sich, keiner wollte ihn wiederhaben, also haben wir ihn genommen.«
Die Scheinwerfer eines Wagens krochen über das Dielenfenster. Sabine machte keine Anstalten, Bella den Anorak abzunehmen oder sie weiter ins Haus zu bitten. In der Wärme kroch Bella der Schweiß aus den Poren.
»Wie gefiel es Mariella bei euch?«
»Sie war zufrieden. Fand gleich einen Draht zu Marlon. Ich bin Lehrerin, ich wollte dieses Jahr wieder arbeiten. Es klappte nicht, Marlon blieb nicht bei Emilie, und mein Chef hat mir nahegelegt, es lieber im nächsten Schuljahr zu probieren.«
»Wie sieht es mit Kindergarten aus?«
Sabine winkte ab.
Marlon hatte vom Hosenbein seiner Mutter abgelassen und begann nun, ihre Füße zu traktieren. Wütend kickte er gegen ihre Chucks.
»Hör auf, Marlon«, stöhnte Sabine.
»Was machte sie denn in ihrer Freizeit?«
Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt.
»O, da kommt Peter.«
»Papa!«, kreischte das Kind.
»Bella!«, rief Peter Kessler verdattert. »Was machst du denn hier?«
»Papa!!!!«, brüllte Marlon. Es klang nicht wie eine freudige Begrüßung, eher wie eine wütende Anklage. »Wo ist Lüneburg? Hast du Lüneburg gefunden?«
»Ich bin alle Spazierwege abgefahren, die wir je mit ihm gegangen sind. Nein, ich habe keine Ahnung, wo er steckt.«
Sabine ließ die Schultern hängen. Marlon warf sich auf den Boden und schrie wie am Spieß. Die Eltern durchlebten eine kurze Krise, bis Peter über das Gebrüll hinweg fragte: »Also, was ist los, Bella?«
»Ich brauche etwas für die Zeitung. Mariellas Foto liegt bereits in den Redaktionen. Irgendjemand hat sie vielleicht vor ihrem Unfall gesehen. Möglich, dass sich Zeugen melden.«
»Komm, wir gehen ein Stück.«
Er war schon zur Haustür draußen.
»Tschüss, Sabine, danke«, murmelte Bella und folgte ihm, erleichtert, die kindliche Feuerwehrsirene nicht mehr ertragen zu müssen.
»Sabine wird mit Marlon überhaupt nicht fertig«, beschwerte sich Peter.
Bella dachte an die tickende Uhr und an den Redaktionsschluss. Sie gingen durch den Garten zur Straße. Ein dunkler SUV parkte dort.
»Dein Wagen?«
»Ja.«
Sie liefen langsam den Gehsteig entlang. In den Häusern rundum brannte Licht. Man sah die Bewohner beim Abendessen sitzen, Fernsehgeräte flimmerten. Adventskränze, Lichterketten, Weihnachtsbäume, drinnen wie draußen. Alles irgendwie behaglich. Ein Dorf, das das Beste aus der dunklen Zeit des Jahres machte. Innerer Rückzug, Gemütlichkeit.
»Deine Frau sagt, Mariella fühlte sich wohl bei euch.«
»Ja, und sie hatte einen Draht zu Marlon. Na, sie ließ ihn machen, was er wollte, wahrscheinlich vergöttert er sie deshalb. Und sie überredete uns zu dem Hund. Hat Sabine das schon erzählt?«
»Hatte Mariella sich eingewöhnt? Oder litt sie an Heimweh?«
»Nein, ich glaube nicht. Sie hat abends immer am Handy mit ihren Freunden gechattet, aber das machen alle jungen Leute, und sie lernte eifrig Deutsch. Ich kann nichts Schlechtes über sie sagen. Wer war nur der Idiot, der sie angefahren hat? Und sie dann liegen ließ? Mein Gott, wie kann man das tun!« Peter blieb stehen. Trotz der Kälte stand ihm Schweiß auf der Stirn. Er wischte sich übers Gesicht.
»Die Polizei fand große Mengen Medikamente in Mariellas Blut«, wagte Bella sich vor. »Weißt du davon?«
»Das haben sie mir auch gesagt. Ein gewisser Kommissar Köhler.«
»War sie krank?«
»Mariella? Nein. Wieso?«
»Woher hatte sie dann die Medikamente? Peter, das waren härtere Sachen als Aspirin.«
Irgendwo sprang ein Wagen an. Das Geräusch verlor sich in der Nacht.
»Ich habe keine Ahnung.« Er schwitzte jetzt stark. Der Mantel schlotterte um seinen mageren Körper.
»Hat sie die nur einmal genommen?«
»Worauf willst du hinauf?«
»Möglicherweise hat Mariella euch gar nicht gesagt, dass sie harte Medikamente nimmt. Hat vielleicht eine Erkrankung verheimlicht.«
»Pah! Nie im Leben! Das hätte ich gemerkt.«
»Und der Hund? Ist in derselben Nacht verschwunden?«
»Sieht so aus. Ich komme zurzeit recht spät heim. Es gibt gerade ziemlich viel zu tun. Außerdem bin ich allein im Büro.« Er wand sich. »Daher führt Mariella Lüneburg aus. Führte ihn aus.« Er biss sich auf die Lippen.
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