1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Der andere Mann war hörbar sauer.
»Warum fällt es dir so schwer, meine Anweisungen zu befolgen?«, setzte er nach. »Was habe ich dir immer und immer wieder eingeschärft? Warum kannst du nicht das tun, was ich ...«
Er unterbrach seine Schimpftirade, als er mich erblickte. Seine dunklen Augen wurden riesengroß, während er mich unaufhörlich anstarrte.
»Na, was haben wir denn da?«
Meine Knie wurden weich, ich taumelte.
»Hab sie so gefunden«, gab der Erste zu Protokoll. »Weiß die Schattengöttin, was die hier verloren hat.«
Der zweite Nordmann musterte mich ausgiebig. Auch er trug eine Kapuze und ein Tuch vor dem Mund. Anhand der kleinen Fältchen, die sich um seine Augen bildeten, während er mich betrachtete, konnte ich davon ausgehen, dass er einige Sommer älter war als sein Begleiter.
»Was sollen wir mit ihr machen?«, fragte der Jüngere.
»Sie könnte uns verraten«, gab er zu bedenken, als der zweite Nordmann nicht gleich antwortete. Hastig schüttelte ich den Kopf.
»Ich verrate niemandem etwas, darauf gebe ich euch mein Wort.«
Ich musste es wenigstens versuchen, ich musste sie unbedingt loswerden!
Der zweite Mann betrat nun endgültig das Haus und drückte die Tür hinter sich ins Schloss, was meine Angst und Nervosität noch weiter ansteigen ließ.
»Was meinst du«, begann er kaum hörbar, »Wie viel ist das Wort einer Südtochter wert?«
Offensichtlich wollte er sich über mich lustig machen.
»Nicht sehr viel«, ging der andere Mann sofort darauf ein. »Wenn ich so darüber nachdenke ... ihr Wort ist rein gar nichts wert.«
Wie konnte er so etwas sagen? Er kannte mich doch überhaupt nicht.
»Mein Wort ist sehr viel wert«, ging ich entschlossen dazwischen. Angst hin oder her, das würde ich nicht auf mir sitzenlassen. »Wenn ich verspreche, niemandem davon zu erzählen, so halte ich mich auch daran. Oder wird so etwas bei euch anders gehandhabt? Hält man sich dort, wo ihr herkommt, etwa nicht an seine Versprechen?«
Natürlich hätte ich mir den letzten Satz sparen können. Das waren Wilde, ohne Gewissen und Ehre. Nordmänner der schlimmsten Sorte. Die würden sich ganz bestimmt nicht an irgendwelche Abmachungen halten. Dennoch musste ich alles versuchen, um meine Familie zu beschützen.
Mit Gewalt verdrängte ich meine Furcht, setzte eine unschuldige Miene auf und brachte sogar ein harmloses Lächeln zustande.
»Ich werde ganz bestimmt niemandem etwas von unserer Begegnung erzählen«, schwor ich mit fester Stimme und hoffte inständig, dass es ausreichen würde, um die beiden Männer zu überzeugen.
Nach einem kurzen Blickwechsel mit seinem Partner schaute mich der jüngere Mann eindringlich an.
»Das möchte ich dir auch geraten haben«, drohte er mit erhobenem Messer. »Sonst stehe ich im nächsten Winter wieder vor der Tür, zerre dich aus deinem weichen Bett und schlachte dich und deine Familie genauso schnell ab wie euer Vieh. Darauf hast du MEIN Wort.«
Ich schluckte erschrocken. Das hatte gesessen.
Er nickte, scheinbar zufrieden mit der Gesamtsituation.
Schließlich drehte er sich zur Seite, legte seine Hand auf den Riegel und war gerade dabei unsere Haustür zu öffnen, als ihn der andere davon abhielt.
»Was ist?«, wollte der junge Nordmann wissen. »Wir müssen los, die anderen warten auf uns.«
Mir schien, als würde eine kleine Ewigkeit vergehen, ehe der Mann endlich eine Reaktion zeigte. Seine Schultern strafften sich, sein Blick wanderte zielstrebig in meine Richtung.
»Warte kurz«, zischte er.
»Uns bleibt keine Zeit mehr«, hielt der andere entschieden dagegen.
Ganz offensichtlich schien er der Vernünftigere von beiden zu sein, wenn ich mir auch nur schwerlich vorstellen konnte, dass es bei denen überhaupt so etwas wie Vernunft gab.
Der Ältere erhob seine Stimme: »Wir könnten sie mitnehmen.«
Einer Panikattacke nahe, schüttelte ich hektisch den Kopf. Immer und immer wieder.
Seine Aussage bescherte mir solche Angst, dass ich nichts und niemandem jemals von dieser Begegnung erzählen würde. Ich wollte einfach nur in mein Bett zurück, die Augen schließen und alles so schnell wie möglich vergessen.
»Wir nehmen sie mit«, sagte der ältere Nordmann plötzlich und kam auf mich zu, in der Hand ein Stück Leinen.
Ehe ich realisierte, was er vorhatte, wurde mir das Stück Stoff in den Mund gestopft.
Danach ergriff er meine Arme, zog meine Hände nach hinten und fesselte sie mir auf dem Rücken.
Völlig hysterisch geworden, versuchte ich zu schreien und trat gleichzeitig nach meinem Angreifer, was ihn jedoch kaum zu stören schien.
»Halt’s Maul«, zischte er drohend, erhob seine Hand und schlug mir mit voller Wucht ins Gesicht.
»Mach die Tür hinter uns zu«, kommandierte er den zweiten Nordmann, während er mich ohne Schwierigkeiten über seine Schulter warf und nach draußen trug.
Unser stetig kleiner werdendes Haus war das Letzte, was ich sah.
Tränen, die unaufhörlich über mein Gesicht liefen, verschleierten meinen Blick – und endlich erlöste mich die Bewusstlosigkeit, die mich heute schon so oft hatte übermannen wollen.
3
Wie viel Zeit inzwischen vergangen war, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen. Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel. Und direkt daneben, wie ich verwundert feststellte, der Mond.
Sonne und Mond, zur gleichen Zeit am Himmel.
Solch ein Schauspiel gab es ganz offensichtlich nur im Winter zu bewundern, denn ich konnte mich nicht daran erinnern, schon einmal so etwas Eindrucksvolles gesehen zu haben.
Ein paar Mal blinzelte ich, um meinen Verstand einzuschalten, der noch immer von einer dichten Nebelwolke umfangen schien. Ganz allmählich klärten sich meine Sinne.
Ich lag im Schnee, mit dem Gesicht zur Seite gedreht. Meine Hände waren nun vor meinem Bauch gefesselt, nicht mehr auf dem Rücken. Der Schnee unter mir kühlte meine geschwollene Wange und ließ den Schmerz erträglicher werden, der beinahe zeitgleich mit meinem Bewusstsein erwachte. Vorsichtig versuchte ich den Kopf anzuheben, damit ich besser sehen konnte.
Unweit von mir hockten meine beiden Entführer um ein Lagerfeuer herum, zusammen mit anderen Männern.
Das müssen mindestens zwanzig Nordmänner sein, fuhr es mir durch den Kopf.
Mein Blick schweifte ab, ich versuchte mir ein Bild von der Umgebung zu machen. Doch schon kurz darauf blieben meine Augen an der dunkelroten Stelle im Schnee hängen, kaum drei Fuß von mir entfernt.
Mein Magen drohte zu rebellieren. Blut.
Der Schnee war blutdurchtränkt. Leichte Nebelschwaden stiegen empor und die Wärme des Blutes vermischte sich mit der eisigen Kälte.
Der Geruch von warmem Fleisch, gepaart mit literweise frisch vergossenem Blut, stieg mir in die Nase und brachte mich augenblicklich zum Würgen.
Meinen Kopf zur anderen Seite drehend, um dem Gestank zu entgehen, entdeckte ich unmittelbar neben mir einen riesigen Haufen abgetrennter Tierköpfe. Mit hervorgequollenen Augen und Zungen, die weit aus ihren Mäulern hingen, starrten mich ihre toten Überreste anklagend an.
O nein...
Einer weiteren Ohnmacht nahe, versuchte ich den Blick auf etwas anders zu fokussieren, um meinen aufgewühlten Magen abzulenken.
Der Rastplatz glich einem Schlachtfeld, überall entdeckte ich blutige Fußspuren und an einigen Stellen dampften Berge von frischen Eingeweiden.
Die armen Tiere.
Stumme Tränen sammelten sich in meinen Augen. Noch nie zuvor hatte ich etwas derart Grausames gesehen. Der Schauplatz dieser Brutalität übertraf alles, was ich bisher erblickt hatte.
Meine Reflexe ließen sich nicht länger unterdrücken, da mir eine weitere Wolke mit dem Geruch frischen Blutes entgegenwehte.
Ich begann heftig zu würgen.
Читать дальше