1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 »Was?« Stinus fuhr herum. »Bist du wahnsinnig? Weißt du, was passiert, wenn das rauskommt?« Er schien sich das gerade vorzustellen, denn seine Augen quollen hervor.
Jetzt war es an Erika, die Achseln zu zucken. »Auch nicht mehr als jetzt schon, denke ich«, sagte sie leichthin. Janssen hatte Stinus etwas erzählt, das ihr wichtig war; dafür müsste sie ihm dankbar sein. Stattdessen erwog sie, den Mann unter Druck zu setzen, ebenso wie Stinus, ohne Gewissensbisse, denn beide hatten sich schuldig gemacht.
Himmel, dachte Erika, was tue ich hier? War ich nicht vor ein paar Wochen noch ein Kind?
Stinus starrte und schwieg, schien ihren Gedankenpfaden zu folgen und zum gleichen Ergebnis zu kommen. Er nickte nachdenklich. »Habt ihr Schnaps?«, fragte er dann unvermittelt.
»Glaube schon«, antwortete Erika. In der Speisekammer standen bestimmt noch ein paar Flaschen. Oma hatte immer auf Vorratshaltung geachtet, und seit Opa weg war, trank hier ja keiner mehr Korn.
»Gut«, sagte Stinus. »Wir können es versuchen. Janssen kommt ja ziemlich oft nach Jemgum, wenn er frei hat. Mit Schnaps wird es gehen. Schreib du was auf. Aber keine Namen, verstanden? Schreib so, dass dein Opa weiß, von wem es ist, aber sonst keiner.« Er verschränkte seine Arme vor der schmalen Brust und richtete sich zu seiner ganzen, bescheidenen Größe auf. »Und ich will etwas dafür.«
Nicht das Schiff, dachte Erika, bitte, bitte nicht das Schiff. Was soll ich bloß Oma erzählen? Und kann ich etwa nein sagen? Bitte nicht das Schiff!
»Du musst mit mir nächsten Sommer zum Müggenmarkt gehen«, verlangte Stinus. »Und auch zum Gallimarkt nach Leer. Nächsten Monat! Ich in Uniform, du mit Zöpfen. Mit Händeanfassen! Sonst mache ich es nicht. Na, was ist?«
Gott sei Dank. Erika strahlte vor Erleichterung. Nur ein paar Jahrmarktsbesuche, was war das schon! »Abgemacht«, sagte sie.
Jetzt strahlte auch Stinus. So, als hätte er einen überraschend guten Preis erzielt.
Wäre er bloß nicht noch einmal in sein Büro gegangen! Und hätte er, einmal dort, nur die Finger vom Telefon gelassen! Gegen antrainierte Reflexe aber kam auch ein Stahnke nicht an, und so hatte er Schmitz am Ohr gehabt, den Kollegen Schmatzeschmitz aus Emden mit der erbetenen Info in diesem zähen, überlagerten, vielleicht schon erkalteten Fall von Brandstiftung, auf dem er seit Wochen uninspiriert herumkaute, weit uninspirierter als dieser Schmitz auf seinen ewigen Lakritzen. Klar, dass er seinen Kollegen nicht mit zwei Worten abfertigen konnte, schließlich erwies der ihm ja einen Gefallen. Also kaute ihm Schmatzeschmitz ein Ohr ab. Hörbar. Stahnke hatte ein paar Notizen auf seine Schreibunterlage gekrickelt, sich mehrmals bedankt und es schließlich doch noch geschafft, das Gespräch zu beenden, ohne die freundschaftlichen Kontakte zum Emder Ableger der Inspektion entscheidend zu gefährden. Trotzdem, eine Viertelstunde hatte ihn das gekostet.
Und jetzt war er zu spät.
Als er den feuchten, gewölbeartigen Keller betrat, war Dedo de Beer schon da. Wie ein Feldherr ohne Hügel stand er inmitten geschäftiger Overall-Träger, die er dirigierte wie ein eingespieltes Orchester, das seine Partitur im Schlaf beherrschte und vielleicht alles Mögliche brauchte, bestimmt aber keinen Dirigenten. Auch Kramer war da, wie Stahnke mit aufwallender Eifersucht feststellte. Immerhin aber hielt er Abstand zum neuen Chef.
»Ja, genau dahin. Sehr gut, sehr gut.« De Beer begleitete die Aufstellung einer dieser neuartigen Rundum-Kameras, die ein geradezu plastisches Abbild des gesamten Tatortes festzuhalten vermochten, mit einem steten Fluss von Kommandos. Dass sich keiner der Techniker darum kümmerte, scherte ihn überhaupt nicht. »Jawoll, so muss das gehen. Das ist die neue Zeit, was, Kollegen? Genau das brauchen wir hier. Keine veralteten Methoden aus der Mottenkiste.« Beifallheischend schaute de Beer um sich. »Fossilien. Ab damit ins Museum! Die alten Zeiten sind vorbei. Einen Stahnke zum Beispiel kann hier wirklich keiner gebrauchen.« Dass sein Blick im selben Moment auf den Träger dieses Namens fiel, hätte kein Dramaturg wirkungsvoller arrangieren können. De Beer verstummte und erstarrte, und mit ihm verstummte und erstarrte jeder andere im Raum.
Warum Stahnke gerade jetzt breit zu lächeln anfing, hätte er selbst nicht zu erklären vermocht. Vielleicht, weil es nun offensichtlich war. Die Fehde war erklärt, die Duellforderung ausgesprochen, es gab kein Zurück, jedenfalls nicht mehr zu vernünftig-friedlicher Kooperation. Fein, dachte der Hauptkommissar, dann also herunter mit den Handschuhen. Und jeder hier konnte bezeugen, dass er nicht angefangen hatte.
Ob de Beer das ähnlich sah? Sein Blick jedenfalls zuckte zurück wie Finger von einer heißen Herdplatte, blitzartig und doch zu spät, und sein grauer Teint zeigte eine leichte rosa Beimischung. Vergeblich versuchte der Kriminalrat, in die Feldherrnrolle zurückzufinden; seine Befehlsgesten gerieten zu einem hilflosen Rudern der Hände, während ein plötzliches Stottern seinen ohnehin überflüssigen Kommandos jede Überzeugungskraft raubte. Einige Sekunden lang ertrug de Beer die ausdruckslosen Blicke seiner Untergebenen, dann brach er mit einem fahrigen »Na, Sie wissen dann ja Bescheid!« seine Versuche ab, wirbelte herum und stürmte dem Ausgang zu. Dabei musste er dicht an Stahnke vorbei, und es war sicherlich nicht einfach, den Hauptkommissar dabei keines weiteren Blickes zu würdigen, aber de Beer brachte das fertig. Stahnke glaubte seine Zähne knirschen zu hören, konnte jedoch nicht ganz ausschließen, dass das Wunschdenken war.
Die Hände tief in den Hosentaschen, tapste er zu Kramer hinüber, peinlich darauf bedacht, nichts zu berühren, was bereits markiert war oder auch nur eventuell als Spur in Frage kam. »Danke für die Nachricht«, murmelte er.
Kramer zuckte nur die Achseln. Wortlos reichte er dem Hauptkommissar ein Paar Latexhandschuhe.
Während Stahnke die widerspenstigen Dinger überstreifte, nahm er die ihn umgebende Szene in sich auf, wie er es vor Jahrzehnten gelernt hatte, lange vor der Erfindung dieser elektronischen Rundum-Kameras. Der Kellerboden sah aus, wie man es nach einer Überschwemmung erwarten konnte, übersät mit allerlei aus den Ecken gespülten, eingeweichten Gegenständen und kleinen Pfützen, die sich in den Löchern und Vertiefungen des unebenen, abgenutzten Bodens hielten, obwohl die Flächen bereits abgetrocknet waren. Was fehlte, waren Schlamm oder größere Mengen Erde und Sand; hier hatte sauberes Leitungswasser gestanden, keine Dreckbrühe aus dem Abwasserkanal oder der heruntergewirtschafteten Ems.
Ganz am Rand des Gewölbes und doch im Zentrum aller Aktivitäten stand die Kiste. Ein Sarg – das war Stahnkes erster Gedanke, aber immerhin wusste er auch bereits, was sich darin befand. Eine Leiche. Und Wasser. Dieses Wasser wurde gerade von zwei Beamten in gazeartigen weißen Overalls vorsichtig abgepumpt; offenbar sollte die Flüssigkeit noch gründlich untersucht werden. Sicherlich eine richtige Maßnahme, dachte Stahnke, auch wenn er bezweifelte, dass man etwas Signifikantes darin entdecken würde. Aber zweifeln hieß nicht wissen, und auf Wissen kam es an.
Der Körper war der eines alten Mannes, der wohl nicht sehr groß gewesen war, sofern man das von einem Liegenden überhaupt bestimmt sagen konnte. Der Tote trug weiße Unterwäsche, war weder dick noch dünn. Sein nasses, weißgraues Haar war halblang und noch sehr dicht, nur in der Stirn ein wenig gelichtet. Die Augenlider waren geöffnet, die Augen dunkelbraun. Die Nase war kräftig, der Mund breit, die Lippen waren schmal, das Kinn war rund, aber breit, weder fliehend noch vorstehend. Kein besonders auffälliges Signalement, musste Stahnke sich selber eingestehen.
»Hatte er etwas bei sich?«, fragte er Kramer, der wieder einmal neben ihm aufgetaucht war wie aus der Erde gewachsen. Stahnke wies auf den Boden: »Hier liegt ja allerhand rum, auch Kleidung.«
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