Damp legte den Bleistift weg. „Sind Sie sich da sicher?“ Selbst wenn es nicht so aussah, auch Damp war hin- und hergerissen. Ein schneller Erfolg wäre nicht schlecht, aber sollten sie Dora Ekkehard zu Unrecht verdächtigen und das bekannt werden, würde er weiter im Ansehen der Hiddenseer sinken. Dora Ekkehard war eine Autorität für die Insulaner, auch wenn sie nicht ins Kino gingen. „Vielleicht haben Sie recht“, stimmte er seinem Kollegen zu. „Fahren wir erst mal zu Steins Haus.“
Damp parkte den Streifenwagen im Süderende am alten Stromhäuschen. Als er ausstieg, fiel sein Blick auf die merkwürdigen Wesen, die Jugendliche auf die Wände des Häuschens in grellen Farben gesprüht hatten. Bisher hatte er die Übeltäter noch nicht ermitteln können. Das ärgerte ihn gewaltig.
„Sehen Sie sich diese Schmiereien an. Wenn ich die erwische ...“
Rieder sah es gelassener. Er kannte Graffitis zur Genüge aus Berlin. Er fand diese Subkultur zwar nicht besonders gut, gerade wenn sie auch vor frisch sanierten Gebäuden nicht haltmachte. Bei leerstehenden Häusern und Ruinen in der Hauptstadt war es ihm aber immer egal gewesen. Hier auf Hiddensee erinnerten ihn die aufgesprühten Wandgemälde an sein früheres Leben und lösten manchmal sogar so etwas wie Heimweh in ihm aus.
„Damp, Sie können den Fortschritt nicht aufhalten. Nicht mal auf Hiddensee.“
„Ph, wo ist das Fortschritt? Das ist nichts anderes als pure Zerstörungswut. Wissen Sie, was das kostet, die Schweinerei wieder wegzumachen?“
Rieder winkte ab und ging zum Deichweg. Das Gras am Schutzdamm war am Vormittag gemäht worden. Aus der Wiese stieg ein intensiver Geruch nach frischem Heu auf. In den Heubergen leuchteten noch die Blüten der abgeschnittenen Wiesenblumen, bevor sie der sanfte Ostseewind vertrocknen ließ. Sie wirkten auf Rieder wie ein Abschiedsgruß des Sommers.
Steins Grundstück, genau an der Ecke, wo die Strandpromenade und der Deichweg am südlichen Ende Vittes aufeinandertrafen, wirkte eigentlich unbewohnt. Der alte Staketenzaun war ausgeblichen, einige Latten zerbrochen. Das Tor ließ sich nur schwer öffnen, weil dahinter das Gras hoch stand und sich kaum wegschieben ließ. Zur Eingangstür führte durch die Wiese ein schmaler Trampelpfad. Das Mauerwerk des Backsteingebäudes brauchte dringend eine Sanierung. An vielen Stellen zerbröselte der Mörtel in den Fugen oder war schon herabgefallen. Die weiße Farbe an den Fensterrahmen war nur noch zu erahnen. Schon bei seinem Besuch mit Behm auf dem Grundstück hatte sich Rieder über den Zustand des Gebäudes gewundert. „Nicht gerade Werbung für einen Bauunternehmer“, bemerkte er jetzt zu seinem Kollegen.
Er holte den Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss der alten Holztür. Es klemmte. Nur mit Mühe bekamen Rieder und Damp die Tür auf. Welchen Gegensatz offenbarte dagegen das Innenleben des alten Strandhäuschens. Die Wände waren frisch weiß gespachtelt. Auf den dunkelrot gestrichenen Dielen lagen helle Läufer. Licht spendeten antike Lampen. Wie Rieder schnell feststellte, handelte es sich dabei um Originale aus den zwanziger oder dreißiger Jahren und nicht um billige Imitate aus dem Baumarkt. Rechterhand ging es in ein Wohnzimmer. An den Wänden hingen Bilder der Insel Hiddensee. Er kannte die Motive von Postkarten, die überall auf der Insel verkauft wurden. Auch das offenbar alles Originale der bekannten Inselmalerin Elisabeth Büchsel. „Mensch, Damp, wissen Sie, was hier für Werte an den Wänden hängen?“
„Keine Ahnung. Ich kenne mich mit Bildern nicht aus“, antwortete Damp.
In der Mitte der Zimmers stand eine alte Ledercouch, davor ein kleines Rauchtischchen. Das einzig Moderne war ein Plasmafernseher.
Küche und Bad mussten erst vor kurzem stilecht saniert worden sein. Eine knarrende Holztreppe führte in den ersten Stock. Die kleine Gaube zur Deichseite ließ nur wenig Licht in den Flur. Die Wände waren bis auf das alte Balkenwerk entfernt worden. Links stand unter dem Fenster mit Blick in Richtung Bodden ein Doppelbett. Daneben ein alter Kleiderschrank. Auf den Stühlen lagen ein paar Sachen. Rieder blickte nach links. „Sehen Sie sich das an. Diese Aussicht!“ Von einem großen Fenster blickte man auf die offene See. „Genial!“, rief Rieder aus.
Damp war nicht so begeistert. „Na und. Auf die Ostsee kann man hier an jeder Ecke schauen. Sogar aus meinem Dachfenster in Neuendorf. Was ist da Besonderes dran?“ Es war das erste Mal, seit die beiden Polizisten das Revier auf Hiddensee teilten, dass Damp etwas über sein Zuhause erzählte. Sonst machte er ein großes Geheimnis daraus, wo und wie er in Neuendorf wohnte. Unter der Dachschräge waren die Regale mit Ordnern gefüllt. Rieder versuchte die Beschriftungen zu entziffern. Er las laut vor: „Laufende Projekte. Häuser Hiddensee. Ablage Inselbau. Bauausschuss. Sparkasse. Prora.“ Auf dem Schreibtisch stapelten sich Mappen. Meist standen Hiddenseer Adressen drauf. Wiesenweg 10. Norderende 23. Schabernack 4 und so weiter. Wahrscheinlich die laufenden Bauprojekte. Rieder klappte die Hefter auf. Drin fanden sich Bauzeichnungen, Bestellungen für Baumaterial, Notizen zum Bauverlauf und viele Rechnungen. Aber nirgendwo konnte er einen Hefter mit der Aufschrift „Zeltkino“ finden. Damp ließ sich in einen Sessel fallen. „Wo wollen wir anfangen?“
„Vielleicht finden wir hier Steins Handy.“ Rieder wählte noch einmal die Handynummer des Bauunternehmers. Es klingelte zwar im Hörer, aber nicht im Haus. „Fehlanzeige.“
Damp hatte mit trägem Blick Rieder zugeschaut. „Und nun? Wonach suchen wir jetzt?“
„Erstmal nach einer Verbindung zwischen Peter Stein und Dora Ekkehard. Mehr haben wir momentan nicht in der Hand.“
„Wir haben noch die Aussagen der beiden alten Schachteln“, entgegnete Damp.
„Glauben Sie wirklich, Dora Ekkehard hat den Stein erschlagen?“, fragte Rieder ungläubig seinen Kollegen.
„Warum nicht?“
„Ich für meinen Teil hoffe es nicht. Aber irgendetwas muss da sein. Vielleicht schauen Sie sich unten um. Wie gesagt, nicht schlecht wäre ein Adressbuch, ein Kalender oder so etwas. Ich schau mich mal weiter hier oben um und gehe die Unterlagen durch.“
Damp stieg die Treppen hinunter. Die Stufen ächzten unter seinem Gewicht. Dann hörte Rieder seinen Kollegen Schubladen aufziehen und wieder zuschieben.
Er selbst widmete sich Steins Schreibtisch und seinen Akten. Den Laptop würde er mit ins Revier nehmen und dort untersuchen. Linkerhand stand auf dem Schreibtisch eine Briefablage. Das Fach „Postausgang“ war leer. Aber im Posteingang hatten sich einige Briefe angesammelt. Rieder zog sie heraus. Lieferscheine für Baumaterial. Ein Vertrag über die Sanierung eines Reetdaches. Angebote von Baumärkten der Umgebung. Alles unverdächtig. Dann nahm er Hefter für Hefter aus dem Regal und blätterte sie durch. Meist ging es um abgeschlossene oder laufende Bauprojekte. Stein musste sehr ordentlich gewesen sein, denn er hatte von der Planung bis zur Übergabe immer alles genau dokumentiert. Rieder entdeckte auch, dass Stein offensichtlich mindestens ein Dutzend Häuser auf der Insel besessen hatte. Außerdem gehörten ihm zwei Läden und vier Restaurants, zum Teil mit Pensionsbetrieb. Bis auf die Pension „Luv & Lee“, die er Charlotte angeboten hatte, waren alle verpachtet. Bei einem Namen blieb Rieder hängen. Otto Bock. Überrascht entdeckte er, dass auch die Pension „Störtebeker“ seines Nachbarn Stein gehörte. Bock hatte sie ihm vor drei Jahren verkauft und dann wieder von Stein gepachtet. Dafür hatte Stein Bocks Schulden bei den Banken übernommen und eine Zwangsversteigerung abgewendet. Das musste doch bitter sein, dachte sich Rieder, sein Hab und Gut aus Not verkaufen zu müssen und dann für den neuen Besitzer dort weiter zu arbeiten. Das erklärte vielleicht auch, warum Otto Bock so wenig Rücksicht auf seine Mitmenschen nahm.
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