Zu einem Zeitpunkt meines Lebens, als ich die Vergeblichkeit allen Strebens erkannt zu haben glaubte und mir redliche Mühe gab, mich mit diesem Gedanken anzufreunden, wodurch, ich verhehle es nicht, eine durchaus wohltuende Ruhe über mich kam, widerfuhr mir etwas, das, obwohl es die Vergeblichkeit, ja Nutzlosigkeit allen Strebens mehr als nur bestätigte, widerfuhr mir also etwas, das mich, meine Nachbarn und einige entfernte Bekannte, mit denen ich damals unregelmäßig zu korrespondieren pflegte, bis heute in eine dem Irrsinn nahe aufgepeitschte Unruhe stürzte. Dass die Wahrnehmung der Dinge durch unsere Sinne rein gar nichts mit den Dingen selbst zu tun hat, wie sie wirklich sind, ist eine Binsenweisheit, doch vergisst sie ein jeder allzu gerne, um ein betuliches, fast vergnügtes Leben in einer Dingwelt zu führen, die dadurch in eine Asservatenkammer verwandelt wird, inmitten der wir stehen und mal diesen, mal jenen Gegenstand aus den Regalen nehmen, um ihn prüfend zu begutachten. Das wusste ich und hatte mich, wie gesagt, damit (wie auch mit manchem anderen, über das zu sprechen hier nicht der rechte Ort ist) abgefunden, doch da stieß ich an einem sonnigen Märztag auf das Fagaröm und von nun an gab es einen Punkt in der Welt, der fest war, ein Ding, von dem ich guten Gewissens sagen konnte: Dieses Ding ist wirklich so, wie ich es mit meinen Sinnen wahrnehme. So und nicht anders! Ein Nebel, der entfernt einem vor vielen Jahren verstorbenen Studienfreund glich, offenbarte mir besagtes Objekt, zeigte es mir jedoch nur kurz und verschwand damit, nicht ohne einen erdigen Geruch nach Roter Bete im Hörsaal zurückzulassen, wo ich gerade über Raumzeit oder, ich bin mir nicht sicher, Zeitraum las. Im Grunde genommen verabscheue ich Banalitäten, und diese hastig hingeworfene Notiz vor meiner Abreise ähnelt verdächtig den Banalitäten, die ich normalerweise verabscheue, und wahrscheinlich hat sich, es ist eine gottverdammte, grässliche, ohne Rezept heillos zusammengerührte Scheiße dieses Leben, hat sich, verfluchte Kacke, hat sich also in meinem verfickten Leben niemals etwas geändert, nichts ändert sich jemals, auch wenn mir dieser, wie mir nun auffällt, grenzenlos blöde aussehende Gegenstand mitten in einer mitreißenden Vorlesung von einem meiner dümmsten und zudem seit Jahren mausetoten Studienkollegen dergestalt präsentiert wurde, als sollte ich vor diesem idiotischen Götzen aus einem Material, das nicht einmal irdisch war, jubilierend auf die Knie fallen. Ich breche nun wohl besser ab und gebe, um mich nicht gänzlich hirnverbrannt zu fühlen, an dieser Stelle ein Gespräch wieder, das ich vor kurzem mit dem Dekan führte, als wir uns in seinem Büro den einen oder anderen Cognac zu Gemüte führten.
„Nichtstun“, sagte er, „ist die schlimmste Form der Rache.“
„Wie meinen Sie das?“, fragte ich.
„Nichts zu tun, zeigt mehr als alle denkbaren Taten die Geringschätzung, die man für jemanden empfindet, der einen einst gequält oder erniedrigt hat.“
„Finden Sie?“
„Nichtstun sagt: Du bist es nicht wert, Opfer meiner Rache zu sein. Ich hasse und verachte dich so sehr, dass ich nichts tun werde.“
„Aber dennoch wünschen Sie, dass derjenige, an dem Sie sich rächen wollen, weiß, dass Sie sich nicht rächen, um ihn dadurch zu strafen.“
„Das ist richtig.“
„Sehen Sie den Denkfehler?“
„Wir befinden uns nicht in einem Seminar über Logik, mein Bester.“
„Da mögen Sie recht haben, aber ich finde, dass es ein gutes Gefühl ist, wenn die, an denen man sich rächen will, wissen, wer sich an ihnen rächt.“
So weit, so gut. Aber, und jetzt merkt fein auf, warum ich mich an Euch räche, wisst Ihr nicht, ahnt Ihr nicht und werdet es nie erfahren.
Natürlich hatten es mir meine Eltern verboten. Natürlich machte ich es trotzdem. Jürgens Eltern hatten es ihm auch verboten, aber auch ihn scherte das nicht die Bohne: Wir waren beste Freunde, saßen in der Grundschule nebeneinander und konnten uns nichts Aufregenderes vorstellen, als die Schlangenhöhle zu erkunden. In Schwarzenacker, dem Dörfchen, wo wir beide wohnten, befand sich im Wald hinter dem Römermuseum ein verzweigtes, sich über mehrere Ebenen erstreckendes Höhlensystem – die Schlangenhöhle. Hier hatten bereits die Römer den rötlichen Buntsandstein gebrochen, dessen Staub allen Besuchern Schuhe und Kleider färbte, verräterisch färbte, denn die Zugänge waren aus Sicherheitsgründen zugemauert. Beim Spielen im Wald hatten wir jedoch ein Loch im Hang entdeckt, kaum größer als ein Dachsgang und doch ein Schlupfloch, das uns mageren Zweitklässlern Einlass in das labyrinthische System gewährte. Da gab es Tunnel, kapellenartige Räume, Teiche, da gab es Kriechgänge, in denen man sich flach auf den Bauch pressen musste, und Röhren gab es da, die noch schmaler waren und hinab in tiefere Etagen führten, wo die Luft nach faulen Eiern roch. Eines Samstags kam Jürgen, dessen Eltern sich nicht sonderlich um ihn kümmerten, nach der Schule zu mir nach Hause, aß mit uns zu Mittag und danach zog es uns nach draußen. „Hast du die Kerzen?“, fragte ich. – „Klar!“, sagte Jürgen. – „Hast du die Streichhölzer?“, fragte ich. – „Klar!“, sagte er, denn seine Mutter rauchte, und schnurstracks ging es in den Wald zum Schlupfloch. An diesem Tag waren wir mutiger als sonst und erkundeten einen Bereich der Höhle, wohin wir uns nie zuvor gewagt hatten. Hinter einem absteigenden Stollen, in dem mehrere Ballen aufgerollten Stacheldrahts lagen, führte eine enge Röhre steil in die Tiefe. Jürgen kroch voraus, ich folgte ihm, die Nase an seinen Schuhsohlen. Das Licht der Kerzen erhellte den roten Boden, die mit nassem Moos bewachsenen Wände und eine von Meißelschlägen schartige Decke, aus der Wurzelfäden hingen wie Indianerhaare. Plötzlich begann Jürgen zu keuchen. „Was’n los?“, fragte ich. – „Asthma!“, kam die gepresste Antwort. Und kurz darauf ergänzte er: „Ich steck fest!“ Sein Atem rasselte eine Weile blechern und nach einem heftigen Zucken der Füße fuhr er fort: „Ich krieg kaum Luft!“ – „Dann nimm halt dein Zeugs!“, sagte ich. – „Würd ich ja, aber das ist in meinem Ranzen.“ – „Scheißdreck!“, entfuhr es mir, denn der lag zu Hause auf meinem Bett. Rasch schmiedeten wir einen Plan: Ich musste nach Hause rennen, mit dem Inhalator zurückkommen, dann würde Jürgen sofort zwei Sprühstöße nehmen und käme danach sicherlich wieder frei. „Wenn ich wieder atmen kann, ist alles in Ordnung“, japste er. Also kroch ich rückwärts aus der Röhre, verließ die Höhle, klopfte den roten Sand von meinen Kleidern und rannte durch den Wald nach Hause. Dort angekommen, zog ich im Flur die Schuhe aus und wollte gerade in mein Zimmer schleichen, doch wir hatten Besuch. „Schau mal, wer da ist!“, sagte Vater und ich musste ins Wohnzimmer und Tante Almut und Onkel Heiner die Hand geben. Mutter stellte einen frischen Teller auf den Tisch und verkündete: „Tante Almut hat Erdbeerkuchen mitgebracht!“ Und da jeder wusste, wie sehr ich Tante Almuts Erdbeerkuchen mochte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu den Erwachsenen zu setzen und ein Stück Kuchen zu essen. „Bist du krank?“, fragte Tante Almut. „Normalerweise isst du doch mindestens zwei! Und wieso ohne Sahne?“ Und schon hatte ich das zweite Stück auf dem Teller, dann das dritte. „Lernst du auch fleißig?“, fragte Onkel Heiner, kaum dass ich das dritte Stück Erdbeerkuchen aufgegessen hatte, und fing damit an, mich über die Schule auszuhorchen. Ob das Fräulein streng sei. Ob es nette Mädchen in meiner Klasse gebe. Wie viel denn sieben mal neun machten und, er lachte verschwörerisch, ob ein Kamel ein oder zwei Höcker habe. Auf einmal stand Vater, der kurz den Raum verlassen hatte, in der Wohnzimmertür und sah mich streng an. „Du warst in der Höhle!“ – „Nein“, log ich, aber da hielt er meine Schuhe hoch, die rot vom Sand waren, und brüllte: „Ins Bett! Sofort ab ins Bett! Ohne Nachtessen!“ Ich hatte nicht den Hauch einer Chance, denn rot waren die Schuhe, die er hielt, rot vom Sand der Schlangenhöhle. Also ging ich zu Bett. Erst weinte ich, dann las ich ein wenig. Irgendwann schlief ich ein. Am nächsten Tag war Sonntag und wir machten einen Ausflug in den Deutsch-Französischen Garten. Wir fuhren mit der Seilbahn. Wir fuhren Tretboot. Ich aß Spaghettieis und meine Eltern tranken Kaffee aus winzig kleinen Tassen. Abends schob ich Jürgens Ranzen unters Bett. Montags kam er nicht zur Schule und der Platz neben mir blieb frei. Natürlich wurden mir Fragen gestellt. An diesem Tag und an den Tagen danach, aber ich behauptete stets stur und steif, wir hätten im Wald „Cowboy und Indianer“ gespielt, Jürgen habe dann schlimme Probleme mit seinem Asthma gehabt und sei nach Hause gegangen. Einige Tage später vergrub ich seinen Ranzen an der Brombeerhecke bei den Bahngleisen. Ich war nie wieder in der Schlangenhöhle. Und heute? Heute trinke ich selbst Kaffee aus winzig kleinen Tassen, kenne keine Eisdiele, die noch Spaghettieis anbietet, und weiß mit Sicherheit nur dies: Einen besseren Erdbeerkuchen als den von Tante Almut habe ich nie wieder gegessen. Aber es war ja auch Sommer und die Erdbeeren waren frisch aus ihrem Garten.
Читать дальше