Die Wahl zum Präsidenten der Insel veränderte meinen Tagesablauf in einigen wenigen, entscheidenden Punkten. Kostümierte Lakaien weckten mich um 6.30 Uhr, wuschen mich mit in warme Kokosmilch getauchten Schwämmen, applaudierten bei der Verrichtung des Morgenstuhls (6.45 Uhr), parfümierten mich, kleideten mich an und reichten mir um 6.49 Uhr die Maske, hinter der ich mich ab 7.15 Uhr allmählich wohlzufühlen begann. Nach einem kleinen Frühstück am Schreibtisch brachte man mich in der Sänfte zum Richtplatz. Richten bis 10.30 Uhr. Kopulation. Regierungsgeschäfte am Schreibtisch. Reichhaltiges Mittagessen mit anschließendem Stuhlgang um 12.15. Danach lange Gespräche mit der Maske bis zum Sonnenuntergang.
„Bist du glücklich?“
„Ja“, sagte ich.
„Magst du mich?“, fragte die Maske.
„Natürlich“, sagte ich – aber was hätte ich denn anderes sagen sollen? Ich war doch Präsident der Insel! Abends trennten sich gegen 21.45 im Sommer und 22.45 Uhr im Winter unsere Wege. Ich las die Klassiker oder dilettierte in allegorischer Dichtung, und die Maske begann ihren Streifzug durch die übel beleumundeten Viertel der Hauptstadt, um in Kontakt zu meinen Untertanen zu bleiben.
Um Punkt 24 Uhr ging ich zu Bett.
„Was sind wir?“, fragte er mit diesem überlegenen Lächeln, das seine Reden begleitete, sobald er sicher war, nicht mehr verstanden zu werden. Nichtsdestotrotz sahen wir ihn erwartungsvoll an, hörten wir ihn doch nach wie vor gerne sprechen und schätzten ihn für all das, was er glaubte, nicht zu sein – und dennoch für uns war. „Was sind wir denn anderes“, fuhr er lächelnd fort, „anderes“, wiederholte er, „als eine Sammlung von Eindrücken, ein Album voller Collagen, die man staunend betrachtet: Das weiche Polster, auf dem ich sitze. Das Abteil, aus dessen geöffnetem Fenster ich hinausschaue. Die Dackel auf dem Bahnsteig – oder sind das da draußen Ratten? Der Mann mit dem Bowler und dem Vogelgesicht. Die Silhouette des Mont-Saint-Michel am Horizont. Die bloßen Beine der Schlafenden, unter deren zu kurzen Rock man, wie ihr sicher selbst schon bemerkt habt, sehen kann. Meine Schuhe auf dem schraffierten Boden.“ – Wir warteten geduldig, dass er weitersprach, doch anstatt die Lektion fortzuführen, hob er die rechte Hand und spreizte die Finger. Dann ballte er die Hand zeitlupenlangsam zur Faust und schüttelte sie, als wollte er ein gefangenes Insekt benommen und fluchtunfähig machen. Erst dann entließ er uns mit einem Kopfnicken. Es war, wussten wir, höchste Zeit, ins Bett zu gehen und darauf zu warten, dass der Schlaf Seite um Seite des Albums umblätterte, dessen Bilder so stark mit Bedeutung aufgeladen waren, dass jedes Blatt aus sich selbst heraus zu leuchten schien.
Am zweiten Tag auf dem Dach stießen wir auf einen anderen Trupp, eine Gruppe zerlumpter Frauen und Kinder, die im Schatten eines Schornsteins lagerte. Als sich Johann, der damals unser bester Späher und Fährtenleser war, den Lagernden näherte, hoben sie die Hände, als wollten sie einen bösen Zauber abwehren. Hinter mir drängten sich die Kinder zusammen wie aus dem Nest gefallene Vögel.
„Johann!“, rief ich. „Frag sie, wie lange sie schon unterwegs sind!“
„Sie reden nicht mit mir“, rief Johann über die Schulter. Er hatte uns den Rücken zugekehrt, die Fremden sahen ihn ausdruckslos an und streckten ihm die Handflächen entgegen. Nach einer Weile spuckte Johann zur Seite aus und kehrte zu uns zurück.
„Die Kinder sind müde“, klagte die Frau mit dem Kropf, die sich uns am späten Vormittag angeschlossen hatte.
„Gehen wir weiter!“, sagte ich, hob die Standarte und hörte, wie der Trupp sich hinter mir murrend in Bewegung setzte.
In den folgenden Tagen begegneten wir niemandem mehr auf unserem Marsch über die Dachschrägen und Betonflächen. Manchmal stießen unsere Vogeljäger auf die Reste von Lagerfeuern. Einmal fanden wir einen ausgeweideten Leichnam, der sich allerdings in einem so fortgeschrittenen Zustand der Verwesung befand, dass man nicht sagen konnte, ob die Verstümmelungen das Werk anderer Wanderer oder das der allgegenwärtigen Raben waren. Einige in unserem Trupp hatten bereits damals, was mich mit Sorge erfüllte, begonnen, die Raben um Hilfe zu bitten und ihnen, wenn sie glaubten, ich sähe es nicht, kleinere Opfergaben darzubringen. Als wir dem Trupp mit den zerlumpten Gestalten ein zweites und möglicherweise letztes Mal begegneten, hatten die Kinder, die uns begleiteten, ihrerseits Kinder bekommen. Johanns Ältester, der nach dessen Absturz das Amt des Spähers und Fährtenlesers innehatte, näherte sich den Gestalten, die im Sonnenlicht über das Ziegeldach verteilt lagen wie vom Himmel gefallene Seesterne, und streckte ihnen dabei abwehrend oder vielmehr beschwörend die Handflächen entgegen, wie es ihn die Raben gelehrt hatten.
Es war einmal ein kleines Märchen, das lebte mit seinen Eltern in einem prächtigen Haus in der Hauptstadt des Reiches. Wie bei allen jungen Märchen war seine Handlung verworren: Es handelte, so viel war gewiss, von einer schönen Prinzessin, die sich in zahlreichen Prüfungen bewähren muss, um als Belohnung einen tapferen Prinzen zum Gemahl nehmen zu dürfen. Allerdings war die Art der einzelnen Prüfungen unklar (das Märchen war ja noch sehr klein) und der tapfere Prinz war nicht einmal aufgetreten. Aber die Zeit, wussten die Eltern des Märchens, würde alles zum Guten wenden, denn so war das immer schon gewesen. Das Haus, in dem das kleine Märchen lebte, hatte keine Fenster (so wohnen Märchen am liebsten, weil sie so ganz bei sich sind), doch aus einem Grund, den keiner kannte oder kennen wollte, gab es gleichwohl ein Zimmer mit einem Fenster zur Straße. Natürlich war die Tür dieses Zimmers stets verschlossen. Der Vater des Märchens, ein sehr strenges Märchen mit religiöser Moral, und seine Mutter, ein eher weitschweifiges Märchen voller unlogischer Wendungen und alberner Rätsel, liebten ihr Kind so sehr, dass sie ihm verboten hatten, den Raum mit dem Fenster zu betreten. Aber eines Tages, als die Eltern Mittagsschlaf hielten, nahm das kleine Märchen den Schlüssel vom Haken, schlich sich hinauf, öffnete die Tür und sah aus dem Fenster. Draußen kämpften zwei Bettelknaben um eine Rübe. Erst schubsten sie sich, dann schlug der eine den anderen nieder, entwand ihm die Rübe und schritt triumphierend von dannen, wobei er mit Genuss das Diebesgut verzehrte. Am nächsten Tag schlich sich das Märchen erneut hinauf, um aus dem Fenster zu schauen: Draußen fuhr gerade ein Karren vorbei, auf dem mehrere in Lumpen gekleidete Gestalten lagen. Sie schliefen nicht, begriff das Märchen plötzlich, sondern sie waren tot und der Schinder brachte sie zum Anger. „Was ist denn mit unserer Kleinen los?“, fragten sich die Eltern beim Tee. „Sie wirkt noch verworrener als sonst.“ Und Tag für Tag schlich sich das kleine Märchen von nun an zum Fenster und allmählich begann es sich zu verändern. Erst wuchs der schönen Prinzessin eine lange Nase, dann wurde sie dick und unförmig und schließlich war sie so hässlich, dass keiner sie mehr heiraten wollte. Nur ein entfernter Verwandter machte ihr noch den Hof, denn er war habgierig und wollte die Mitgift. Nach vielen weiteren Besuchen in dem verbotenen Raum mit dem Fenster zur Straße wurde die Prinzessin jähzornig und trat nach dem greisen Freier, der vor ihr kniete, und hatte nur Augen für den bösen Zauberer, der mit listigem Frettchenblick hinter dem Thron des Vaters hervorspähte. Und Tag für Tag schaute das kleine Märchen aus dem Fenster und schließlich wurde die Prinzessin sehr krank und lief lauthals Lieder singend, deren Texte allen Angst machten, durch das baufällige Schloss, in dem allerorten der Schimmel wucherte. Den Eltern blieb die Veränderung nicht unverborgen. „Was ist denn mit unserer Kleinen los?“, fragten sie sich beim Tee. „Findest du nicht auch, dass sie immer weniger wie ein echtes Märchen aussieht?“ Doch als die Eltern das kleine Märchen zur Rede stellen wollten, floh es mit dem Schlüssel die Treppe hinauf und sprang, als man an die Tür des verbotenen Raums klopfte, mit einem Satz hinunter auf die Straße, um nicht ausgeschimpft zu werden. Beim Sprung brach es sich beide Beine. Zum Glück kam ein betrunkener Uhrmacher vorbei, nahm es mit zu sich nach Hause, schiente notdürftig die Schenkel und kettete es im Keller an. Hier musste es Tag und Nacht schwerste Arbeiten verrichten: Kartoffeln schälen, Kessel polieren und noch vieles andere, worüber ich hier nicht sprechen möchte. Längst hatte das kleine Märchen keine erkennbare Handlung mehr. Eine fette, böse Frau (wohl die ehemalige schöne Prinzessin) prügelt sich mit einem fetten, bösen Mann (wohl der ehemalige tapfere Prinz) um eine gestohlene Rübe, ein dunkler Zauberer reitet auf seinem Mantel durch die kochende Zeit, ein Schloss oder eine Scheune stürzt ein, Blut strömt statt Wasser in den Flüssen des Reiches – und Kartoffeln wurden geschält und Kessel wurden poliert und noch vieles andere wurde getan, worüber ich hier nicht sprechen möchte. Fast jeden zweiten Abend war der Uhrmacher so betrunken, dass er zügellos auf das Märchen einprügelte und es wegen seiner schief und krumm zusammengewachsenen Beine verhöhnte, auf denen es sich kaum zum Wassereimer schleppen konnte. Und so vergingen die Jahre. Längst hatten die Eltern das Märchen vergessen – und noch schlimmer: Keiner wusste, dass es angekettet im Keller des Uhrmachers sein kärgliches Dasein fristete. Und weitere Jahre vergingen. Als der Uhrmacher sich endlich totgesoffen hatte, blieb das Märchen weiterhin angekettet im Keller und wurde von Tag zu Tag dünner und dünner. „Wäre ich doch bloß nicht aus dem Fenster gesprungen“, sagte es mit schwacher Stimme und rang die Hände, „dann wäre ich heute ein schönes Märchen und man würde mich erzählen, aber nun kennt mich keiner und es ist mein Schicksal, hier in diesem Kellerloch elendigst zu verhungern und zu verdursten. Ach, hätte ich doch nie aus dem Fenster geschaut!“ Kaum hatte es das gesagt, kam der Tod und breitete mit einem Lächeln seinen Mantel aus. Und so starb das Märchen. Aber hätte es jemand gelesen oder erzählt bekommen, es wäre ohnehin nicht mehr verstanden worden.
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