Tim Herden - Schwarzer Peter

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Der Unternehmer und Kunstsammler Werner Gilde ist auf Hiddensee verstorben. Am offenen Grab bezichtigen sich Witwe und Sohn gegenseitig, Gilde ermordet zu haben. Die Inselpolizisten Ole Damp und Stefan Rieder glauben zunächst, es ginge bei dem Streit nur um das Erbe. Immerhin besaß Gilde eine wertvolle, einmalige Kunstsammlung mit Werken des Hiddenseer Künstlerinnenbundes. Doch dann wird sein bester Freund, der Inselmaler Hans Kempe, tot am Boddenufer gefunden. In seinem Haus entdecken die Polizisten eine Fälscherwerkstatt. Der Betrug mit Kunstwerken scheint das Motiv für den Mord zu sein. Und dann stellt sich tatsächlich heraus: Auch Gilde wurde getötet. Mit Gift. Damp und Rieder stehen bei ihren Ermittlungen wieder am Anfang.
»Schwarzer Peter« ist der inzwischen fünfte Fall des eigenwilligen Ermittlerduos Damp und Rieder, in dem Tim Herden eine spannende Kriminalgeschichte mit vielen wiederzuerkennenden Ortsdetails liefert.

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Wenig später waren Damp und Holms Assistent Sascha ausgeschwärmt und suchten das Gelände um den Deich und das Bollwerk nach der Tatwaffe ab. Man hatte sich auf einen spitzen massiven Stein geeinigt. Rieder war bei Behm geblieben. Zuerst hatte der Spurensicherer die Jackentaschen des Toten geleert. Ein paar Schlüssel und eine abgenutzte Brieftasche waren zum Vorschein gekommen. Er reichte die Sachen Rieder. Die Schlüssel verstaute Rieder gleich in einer durchsichtigen Asservatentüte, das Lederetui durchsuchte er nach Papieren. Einen Ausweis gab es nicht, aber dafür einen rosa DDR-Führerschein, Klasse B. Rieder klappte die Pappkarte auseinander. Ihm schaute ein jüngerer Kempe entgegen, doch Frisur und selbst die Falten im Gesicht ähnelten dem Toten. Das Ausstellungsdatum war 1985. Damals war Kempe um die fünfzig gewesen. Eine Adresse gab das Dokument nicht her. Sicher wusste Damp, wo der Tote gewohnt hatte. Behm untersuchte die Hände des Toten, gab es aber bald auf. „Der hat so viel Malerdreck unter den Fingernägeln. Da wird es schwierig werden, irgendwelche Fremd-DNA zu sichern, wenn es überhaupt welche gibt. Anzeichen für einen Kampf sind ja auch nicht zu sehen.“

Rieder schaute kurz hoch und beobachtete seinen Kollegen, wie er die Hände der Leiche vorsichtig in Plastiktüten verpackte und dann an den Unterarmen zuschnürte. Dann tastete er weiter die Kleidung des Toten ab. In einer Hosentasche fand Behm ein paar Münzen und ein Stofftaschentuch. Rieder hatte gehofft, er würde ein Funktelefon finden.

„Haste übrigens gehört, dass Bökemüller eine neue Truppe aufstellt?“

„Nö, woher?“

„Na, ich dachte, dass du mit dem Alten doch auf gutem Fuß stehst.“ Behm wandte sich den Schuhen zu, suchte zuvor mit einer Lupe noch die Kleidung nach Faserspuren ab.

„Ich habe Bökemüller zuletzt im Januar gesehen, kurz nach der Aktion hier auf der Insel. Was soll das denn für eine Truppe sein?“

„Soll sich SOKO Bäderpolizei nennen. Bökemüller hat mich gefragt, ob ich mitmachen würde.“

„Und?“

„Würde mich schon reizen. Einsatzgebiet soll vom Darß über Rügen bis nach Usedom reichen. Hauptstandort Stralsund. Das käme mir natürlich zupass. Da kannste meistens, wenn was passiert, abends auch noch nach Hause fahren.“

„Nach Hiddensee kann man weder von Stralsund noch von sonstwo hier oben abends nach Hause. Und dann immer in Hotels und Pensionen abhängen, na, ich weiß nicht.“

„Willst du denn auf der Insel bleiben?“

Rieder zuckte mit den Schultern. „Im Moment schon. Mir gefällt’s hier.“

„Und mit Damp?“

„Was soll mit Damp sein?“

„Kommt ihr miteinander klar nach der Nummer im Winter?“

„Schon“, um nach einer Pause noch anzufügen, „irgendwie eben.“

„Naja“, plauderte Behm weiter, „ich habe Bökemüller gesagt, du müsstest den Chef machen.“

„Was hast du ihm gesagt?“ Rieder war aufgebracht. Er mochte es nicht, wenn sich andere in seine Angelegenheiten einmischten oder glaubten, sein Anwalt sein zu müssen.

Behm schaute sich kurz um. „Nicht so laut. Die beiden müssen nicht hören, was läuft.“

Er trat näher an Rieder heran. „Mal im Ernst, wer sollte es sonst machen? Nichts gegen die Kollegen aus Stralsund, Bergen oder Greifswald. Aber die bösen Buben, die da anrücken, aus Berlin zum Beispiel, sind eher deine Kragenweite. Auch die Bandenkriminalität an der Grenze und so, das aufkommende Drogengeschäft, die Rotlichtcliquen, also beim besten Willen, das ist eine Nummer zu groß für einen von uns. Da muss ein Fachmann mit deiner Kompetenz ran. Immerhin warst du stellvertretender Leiter einer Mordkommission.“

Rieder schnaufte kurz. „Das nannte sich Abwesenheitsvertreter und war die bessere Umschreibung für Dienstplanverantwortlicher, weil es keiner machen wollte. Außerdem weißt du genau, warum ich hier hoch gekommen bin.“

Behm zog die Augenbrauen nach oben. „Irgendwann musst du deinen Kururlaub mal beenden. Ich kenne einen, der letzten Herbst losgetigert ist, kaum dass er wieder unter den Lebenden war, mit einem Verband um Arm und Schulter, und dann um die halbe Welt einen Mörder verfolgt hat …“

„Das war etwas anderes.“ unterbrach ihn Rieder und trat einen Schritt zurück. Über den Deich kam der schwarze Kombi des Beerdigungsinstituts.

„Was soll ich Bökemüller sagen?“, drang Behm noch einmal auf seinen Kollegen ein.

„Was du ihm sagen sollst?“, fragte Rieder unwirsch. „Bist du sein Bote?“ Er steckte die Hände in die Hosentaschen. „Wäre schon keine schlechte Kombination für ein Team, Ermittler und Spurensicherer“, bemerkte er nachdenklich. „Aber da steht sicher irgendeine Vorschrift oder der Tarifvertrag dagegen.“

Behm grinste. „Also hast du doch Lust …“

„Ich weiß nicht …“, blockte Rieder ab. Er wollte das Thema beenden. Aber in seinem Hirn hatten sich Behms Worte festgesetzt und begannen nun ein Eigenleben zu führen. Rieder versuchte sie zu verdrängen. „Jetzt kümmern wir erst mal um den Toten hier.“

Damp und Sascha kamen zurück. „Nichts gefunden“, erklärte Damp. „Kein Stein, keine Flasche, kein Brett, kein Werkzeug.“

„Dann liegt es vielleicht auf dem Grund des Boddens.“ Behm machte eine ausschweifende Handbewegung über das Wasser und drehte sich dabei zur Staffelei. „Wo ist eigentlich das Bild?“

„Das habe ich mich auch schon gefragt“, antwortete Rieder.

IX

Rieder setzte sich auf die Ladekante des Polizeiautos und zog die Wathose über. Hier auf Hiddensee gehörte das zum Standard der Polizeiausrüstung. „Wie kalt wird das Wasser jetzt sein?“, fragte er zögerlich.

„Vielleicht zehn Grad“, antwortete Holm Behm.

Rieder überlief ein Schauer. Er atmete tief durch, stand auf und kletterte den Steindeich hinunter. Damp stand mit verschränkten Armen auf dem Kai. „Ich finde es total sinnlos, jetzt in die kalte Boddenbrühe zu springen“, grummelte er. „Das Bild ist doch sowieso futsch.“

Rieder konnte ihm nicht ganz widersprechen und wusste eigentlich auch nicht, was er mit seiner Badeeinlage beweisen wollte. Vorsichtig tauchte er seinen rechten Fuß in das Wasser und zog ihn gleich blitzartig wieder zurück. „Scheiße! Ist das kalt!“

Rieder zog die Luft zwischen den Zähnen ein. Damp und Behm grinsten. Auch Sascha konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, beugte sich aber gleich wieder über die Staffelei und pinselte weiter das Gestänge ab auf der Suche nach Fingerabdrücken.

Rieder unternahm einen zweiten Versuch. Langsam tauchte er den Fuß ins Wasser. Er hoffte, dass sich so sein Körper besser an die Temperatur gewöhnen würde. Es schien auch zu klappen. Er senkte auch den zweiten Fuß in den Bodden. Das Wasser war so flach, dass es ihm nicht mal bis zu den Knien reichte. Langsam stapfte er los. Seine Füße durchschnitten das Wasser. Trotz der Wathose kroch die Kälte des Wassers langsam an den Beinen empor. Rieder schaute sich um und achtete dabei nicht, wohin er gerade trat. Sein Fuß erwischte einen Stein, rutschte ab. Er wedelte mit den Armen und konnte nur durch hektisches Springen von einem Bein auf das andere das Gleichgewicht halten. Wasserspritzer durchnässten sein Hemd. Rieder fluchte. Vom Ufer hallte lautes Lachen. Rieder schaute ins Wasser. Der Stein war der einzige weit und breit. Sonst war hier nur Schlick und Sand. Er griff in das kalte Wasser und holte einen quadratischen roten Backstein heraus. Rieder erinnerte sich, neben der Staffelei eine Lücke in der Kaikante unbewusst wahrgenommen zu haben, als er den Fundort der Leiche inspiziert hatte. Er betrachtete den nassen Stein, drehte ihn zwischen seinen Händen hin und her. Langsam ging er zurück zum Ufer. Seine Kollegen spendeten übertrieben Beifall.

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