Tim Herden - Schwarzer Peter

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Der Unternehmer und Kunstsammler Werner Gilde ist auf Hiddensee verstorben. Am offenen Grab bezichtigen sich Witwe und Sohn gegenseitig, Gilde ermordet zu haben. Die Inselpolizisten Ole Damp und Stefan Rieder glauben zunächst, es ginge bei dem Streit nur um das Erbe. Immerhin besaß Gilde eine wertvolle, einmalige Kunstsammlung mit Werken des Hiddenseer Künstlerinnenbundes. Doch dann wird sein bester Freund, der Inselmaler Hans Kempe, tot am Boddenufer gefunden. In seinem Haus entdecken die Polizisten eine Fälscherwerkstatt. Der Betrug mit Kunstwerken scheint das Motiv für den Mord zu sein. Und dann stellt sich tatsächlich heraus: Auch Gilde wurde getötet. Mit Gift. Damp und Rieder stehen bei ihren Ermittlungen wieder am Anfang.
»Schwarzer Peter« ist der inzwischen fünfte Fall des eigenwilligen Ermittlerduos Damp und Rieder, in dem Tim Herden eine spannende Kriminalgeschichte mit vielen wiederzuerkennenden Ortsdetails liefert.

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VI

Gudrun Witt saß in der Morgensonne vor ihrem Haus am Schabernack und schälte Kartoffeln. Hier am Ortsausgang von Neuendorf, dem südlichen Inselort auf Hiddensee, konnte sie gut beobachten, wer wegfuhr und ankam. Ihr Telefon klingelte. Sie hatte es mit nach draußen genommen. Heiner sollte nicht geweckt werden. Er war von Mitternacht bis kurz nach sechs draußen gewesen. Auf Heringszug. Die Schwärme zogen gerade durch den Bodden. Ihr Mann hatte reiche Beute gemacht. Aber dann musste er noch nach Schaprode fahren, um dort den Fang abzuliefern. Dieser Umweg machte ihn immer ärgerlich. Auf Hiddensee war noch keine Saison, und damit bestand auch keine Nachfrage für den Fisch. Anders auf Rügen. Da lief der Verkauf an die Fischfabrik in Sassnitz und ein paar lokale Abnehmer, die daraus Pfefferhering, Bismarckhering, Brathering oder Matjes machten.

Gudrun nahm ab und meldete sich. „Beruhige dich erst einmal“, sprach sie in den Hörer. Dann lauschte sie wieder. „Das kann doch nicht wahr sein!“, rief sie wenig später aus. „Wo genau?“, und hörte wieder zu. „Ja, klar! Ich weiß, wo das ist.“ Sie warf das Kartoffelmesser in die Schüssel und stemmte entrüstet den Arm in ihre Hüfte. „Was soll ich machen? Bist du meschugge? Was hab’ ich damit zu schaffen? Ich habe auch gar keine Zeit. Bin gerade beim Kartoffelschälen. Heiner muss doch sein Mittagessen bekommen.“ Wütend schüttelte sie den Kopf, auch wenn es der Anrufer nicht sehen konnte. „Ja, ist ja gut. Ich mach’ schon. Hoffentlich gibt das keinen Ärger.“ Gudrun verdrehte die Augen. „Klar versteh’ ich dich. Aber irgendwann … Ja, ich ruf’ an. Nein. Ich sage nichts.“

Sie drückte den roten Knopf an ihrem Telefon und trug den Kartoffeltopf in die Küche. Dort legte sie Heiner einen Zettel auf den Tisch, dass sie gegen elf wieder da sein würde und hoffte, dass ihr Mann bis dahin schlafen würde. Kurz danach trat sie wieder vor die Tür, hatte ein Kopftuch umgebunden und eine blaue Wetterjacke über die Nylonschürze gezogen. Sie ging zum Schuppen und holte eine alte weiße Plane heraus. Sie hatte früher zu einem Pavillon gehört, den jedoch ein Sturm zerstört hatte. Gudrun begutachtete das Stück Kunststoff und klemmte es auf den Gepäckträger ihres Fahrrads. Dann setzte sie sich mit einem Ruck auf den Sattel, fand die Pedale und fuhr los, Richtung Süden.

Damp schaute immer wieder ungläubig auf das Telefon. Das tat er schon seit einer Stunde. Rieder hatte kurz angerufen, dass er heute freinehmen würde, wenn nichts weiter anliegen würde. Die Unterschriften von Martina Gilde und Richard Schlick könne er doch sicher selbst eintreiben. Wenn sich die Staatsanwaltschaft melden würde, solle Damp ihn anrufen. ‚Der feine Herr macht es sich schön bequem‘, hatte sich Damp gedacht. ‚Kippt den Müll einfach auf meine Seite des Schreibtischs.‘ Andererseits war er eigentlich der Chef des Hiddenseer Polizeireviers. Aber eben nur eigentlich.

Kurz danach hatte Damp eine SMS erhalten. Immer wenn die Anzeige aus dem Display verschwand, drückte er schnell eine Taste, und die Schrift war wieder da. Er las wieder und wieder den kurzen Text. Damp drehte sich zum Kalender an der Wand. Nur noch neun Tage bis Karfreitag. Er stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und schaute aus dem Fenster. Draußen lief die morgendliche Geschäftigkeit. Die Elektrokarren der Reederei zogen Container mit Waren für die Supermärkte nach Kloster. Inselfrauen mit vollgepackten Taschen an den Rädern fuhren vorbei. Ebenso Handwerker, nur eine Hand am Rad, die Werkzeugtasche über der Schulter und unter einem Arm Rohre oder Holzbretter. Der Saisonbeginn stand vor der Tür. Ostern. Bis dahin musste sich Damp entscheiden.

„Lochfraß. Eindeutig Lochfraß.“ Hans Claasen klopfte mehrfach mit einem Schraubenzieher an das aufgeplatzte Bleirohr in der Toilette von Rieders Haus. Dabei schüttelte er immer wieder den Kopf. „Ich sag’s ja, Lochfraß.“ Er warf das Werkzeug in seine Ledertasche. „Das war nicht nur der Frost. Das war einfach alt. Und dann war das Rohr gleich hier hinter der Tür. Bei dem Winter. Keine Chance.“

Claasen schloss zum Beweis die Toilettentür und zeigte dann auf die breiten Ritzen zwischen Tür und Rahmen. „Das hält nix ab, Chef.“

„Kann man das denn reparieren?“, fragte Rieder vorsichtig. Er war schon froh, dass Claasen gleich gekommen war. Es hatte keine halbe Stunde gedauert, dann war der Vorarbeiter der Firma Inselbau mit dem alten weißen Lieferwagen vorgefahren.

Claasen kratzte sich am Kinn. „Kann man. Man gut, dass du gleich angerufen hast. Die Frage ist, ob du wieder Kupfer haben willst oder wir gleich mal die ganze Schose hier umbauen auf Plastik. Das ist besser. Verstehste?“

Geduzt wurde der Polizist von den Bauarbeitern der Inselbau, seit er den Mord an ihrem Chef aufgeklärt hatte. Es war eine Art Hiddenseer Ritterschlag. Obwohl auch Damp daran seinen Anteil hatte und sogar in Lebensgefahr geraten war, verwehrten ihm die Bauleute diese Ehre. Er war Rüganer. Eine unüberwindbare Hürde für Vertraulichkeiten.

Rieder hatte von unterschiedlichen Rohrqualitäten keine Ahnung, sondern wollte nur wieder fließendes Wasser. „Das kann ich nicht entscheiden. Ist ja nicht mein Haus. Ich bin nur der Mieter.“

„Musste aber“, beschied ihm Claasen eindringlich. „Viel Zeit ist nicht. Wenn ab übermorgen die Sommerhäusler antraben, dann keine Chance. Dann kommste nicht mehr dran.“

Als Sommerhäusler bezeichneten die Hiddenseer die Besitzer der zahlreichen Datschen auf der Insel. Viele befanden sich in der Dünenheide zwischen Vitte und Neuendorf, aber auch im Hochland von Kloster. Die meisten waren vor Jahrzehnten gebaut worden. Obwohl viele Häuser nach der Wende saniert worden waren, blieben es Sommerhäuser mit dünnen Wänden und Wasserleitungen, die nicht tief in der Erde lagen.

„Eins ist ja klar, nach dem Winter fliegen denen in der Heide die Hähne und Rohre um die Ohren wie die Löcher aus dem Käse. Da ist für uns Saison. Und da sie es ja alle so hübsch wie zu Hause haben wollten, ist das richtiger Dreck. Alle Rohre unter Putz. Noch schön Kacheln draufgeklebt. Das muss dann alles runter. Und dann sind wir ausgebucht. Da kiekste in den Mond. Also?“

„Ja, dann …“

Claasen nahm das als Zustimmung, hockte sich hin und begann in seiner Werkzeugtasche zu wühlen. Er holte verschiedene Rohrstücke hervor, hielt sie kurz hoch und verglich sie mit dem geplatzten Rohr und warf sie dann wieder zurück, bis er endlich ein passendes Plastikteil gefunden hatte. Er hielt es neben die geborstene Leitung und nickte.

„Das ist dann wie in einer Fabrik“, erzählte der Handwerker weiter. „Einer geht rein, kloppt die Wand auf, holt den Mist raus, dann komme ich, schraube die neuen Rohre rein, und zum Schluss müssen die Maurer und der Fliesenleger ran.“

Claasen hatte sich mit einer Rohrzange bewaffnet und versuchte das kaputte Rohr abzuschrauben. Er umfasste die metallene Muffe mit der Rohrzange und versuchte sie zu drehen. Doch es war widerspenstig. Es tat sich nichts. Claasen begann heftig zu rütteln. Das Haus bebte. Rieder lief ins Bad und sah, dass sich an dem Loch, durch dass das Rohr von der Toilette in das kleine Bad führte, immer mehr Putz ablöste und ins Waschbecken fiel. Er eilte zurück und bot Claasen an, auf der anderen Seite der Wand gegenzuhalten. Claasen lehnte ab und würgte weiter. „So ein Schiet!“, brüllte er dabei. „Wie alt ist denn dieser Kladderadatsch? Das hat wohl noch der Kaiser eingebaut?“

Rieder rannte wieder ins Haus. Die Putzbrocken wurden größer. „Hier fällt alles von der Wand!“, rief er.

Claasen hielt ein. „Dann halt doch endlich mal gegen“, befahl er. Und wirklich. Mit gemeinsamer Kraft gab das Rohr seinen Widerstand auf und konnte abgeschraubt werden. Claasen trabte zu seinem Lieferwagen. Er holte einen mobilen Schraubstock heraus, um das neue Teil auf Maß zu schneiden. Rieder wollte nicht nur blöd danebenstehen. „Haben Sie … äh … habt ihr von der Inselbau auch das Haus von Gilde saniert.“

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