Juliana Paagal starrte Battle einige Minuten lang an, ohne etwas zu sagen. Battle hatte das Gefühl, als würde sie eine Art psychisches Inventar erstellen und sich ohne Erlaubnis geistige Notizen machen. Er saß da, starrte zurück und versuchte nicht die kleinste Kleinigkeit preiszugeben.
»Hören Sie zu, Marcus Battle«, sagte sie schließlich. »Sie helfen uns, das Kartell zu besiegen oder sie wenigstens so zu schwächen, dass sie es nicht wagen, uns erneut anzugreifen, dann werden wir Ihnen helfen, Ihren Weg zum Wall und darüber hinaus zu finden.«
Battle schüttelte den Kopf. »Sie können sie nicht besiegen«, sagte er. »Sie sind nicht nur hier aktiv, sie sind überall. In Abilene, Houston, Dallas, San Antonio, Austin und Galveston. Das wissen Sie besser als ich.«
»Dieser Mann, Pierce, der, den Sie hierher gebracht haben, ist nicht der einzige Spion«, erklärte sie. »Auch wir sind in der Lage, den Feind zu infiltrieren.«
»Tatsächlich?« Es war weniger eine Frage als vielmehr ein ironischer Ausdruck seines Zweifels.
»Seit dem Waffenstillstand haben wir Widerstandszellen gebildet«, erklärte sie. »Sie haben inmitten des Kartells gelebt und gearbeitet – in allen von den von Ihnen aufgezählten Städten. Sie haben sorgfältig weitere Verbündete rekrutiert, und sie alle sind bereit, aktiv zu werden, wenn wir ihnen ein Zeichen geben. Wir können das Kartell vernichten! Sie sind genau zur richtigen Zeit gekommen.«
»Oder zur falschen Zeit.« Er seufzte. »Sie sprechen da von einem Krieg.«
Paagal presste die Lippen aufeinander, kratzte sich am linken Bizeps und nickte. »Ich nenne es allerdings lieber einen Aufstand oder eine Revolution.«
»Bloße Semantik«, sagte er.
»Touché.«
»Also sind Sie überzeugt davon, dass Sie das Kartell vernichten können?«
»Wir glauben fest daran«, sagte sie. »Die Zeit dafür ist reif.«
»Nun ja, wenn das Kartell vernichtet ist«, meinte Battle und beugte sich vor, »werde ich Ihre Hilfe nicht mehr brauchen.«
»Doch, das werden Sie«, antwortete sie. »Denn das Kartell ist die größte und niederträchtigste aller organisierten Gruppen, die nach dem Ausbruch der Krankheit aufgetaucht ist. Aber sie ist nicht die einzige. Es gibt Dutzende Banden von Dieben und Mördern, die entlang des Walls leben, sich wie Parasiten von einer Seite zur anderen fressen und sich von denen ernähren, die passieren wollen. Sie werden also unsere Hilfe brauchen.«
Battle lehnte sich zurück und nickte. Er wusste, dass er keine andere Wahl hatte. »Dafür, dass Sie immer betonen, Pazifistin zu sein, sind Sie aber ganz schön begierig darauf, in den Kampf zu ziehen«, stellte Battle fest. »Das macht irgendwie einen scheinheiligen Eindruck auf mich.«
»Ist das so?«, fragte Paagal mit unverändertem Gesichtsausdruck.
»Gewalt ist mein Instrument, weil ich Gewalt mag«, erklärte er. »Auch wenn es mir nicht gefällt, das zuzugeben. Doch dieses Kreuz muss ich nun mal tragen.« Battle wurde bewusst, dass er, schon seit Tagen nicht mehr gebetet hatte. Er war dabei, seine Religion in der Wildnis der ungezähmten Landschaft, die ihn umgab, zu verlieren. Es war nicht so, dass er vergessen hatte, wie es war, zu beten, er hatte nur kein Bedürfnis mehr danach.
»Interessante Selbsterkenntnis«, antwortete Paagal. »Ich würde entgegnen, dass ich Gewalt nur anzuwenden bereit bin, wenn Gewaltlosigkeit bedeutet, die Lösung eines Problems weiter aufzuschieben.«
»Sie zitieren gerade Malcolm X, oder?«, fragte Battle.
Ein Grinsen huschte über Paagals Gesicht, wobei ihre wundersam weißen Zähne im rötlichen Licht des Zeltinneren förmlich leuchteten. »Sei friedlich, sei höflich, befolge das Gesetz, respektiere alle; aber wenn jemand Hand an dich legt, dann schicke ihn auf den Friedhof«, sagte sie. »Und zwar mit allen Mitteln.«
25. Oktober 2037, 7:49 Uhr
Jahr fünf nach dem Ausbruch
Houston, Texas
Ana Montes war spät dran. Sie eilte die kaputte Rolltreppe hinunter und glitt mit der rechten Hand über das Gummigeländer, während sie in die Dunkelheit hinabstieg. Ihre Schuhe klapperten über die Aluminiumstufen. Selbst in der Dunkelheit des unterirdischen Tunnels wusste sie genau, wo sie war und wo sich ihr Ziel befand. Zwanzig Fuß unterhalb der Überreste der Innenstadt von Houston, Texas, stieg Ana von der Rolltreppe und ging fünfzehn Schritte geradeaus, bevor sie sich um neunzig Grad drehte und nach rechts abbog. Ihre Schritte hallten an den Wänden des sechs Meilen langen Tunnelsystems wider. Ein weiteres Mal bog sie neunzig Grad nach rechts ab.
Sie konnte jetzt die gedämpften Stimmen der anderen hören. Sie hatten also offensichtlich ohne sie angefangen. Sie holte tief Luft und betrat den Raum. Im Licht der LED-Taschenlampen waren die Gesichter von einem Dutzend Männer und Frauen zu sehen, die sich um eine Karte auf einem Tisch drängten. Alle sahen zu ihr auf, als sie den Raum betrat.
»Du bist zu spät«, knurrte der Mann in der Mitte der Gruppe. »Wir mussten deshalb ohne dich anfangen.«
»Ich habe es leider nicht eher geschafft, mich loszueisen«, erwiderte sie außer Atem und nahm ihren Platz am Tisch ein. Von ihrem Blickwinkel aus lag die Karte auf dem Kopf. Sie stand also gegenüber von dem Mann, der hier das Sagen hatte.
Er hieß Sidney Reilly. Aber alle nannten ihn Sid. Er war derjenige, der die meisten von ihnen rekrutiert und dazu gebracht hatte, sich dem Widerstand der Dweller anzuschließen.
Sein Blick blieb auf Ana gerichtet, als er weitersprach. »Wie ich schon sagte«, schnaubte er, »wir sind kurz davor. In ein oder zwei Tagen ist es soweit. Unsere Aufgabe ist es …«
»So bald schon?«, unterbrach ihn Ana. »In ein oder zwei Tagen bereits? Ich denke nicht …«
Sid kniff die Augen zusammen. Die Schatten, die das Licht der Taschenlampen warfen, vertieften seine gerunzelte Stirn. »Ich habe nicht danach gefragt, was du denkst. Wir beginnen, wenn wir beginnen. Entweder du bist dabei, oder du bist es nicht, Ana.«
Ana wich vom Tisch zurück und versuchte das brennende Gefühl zu lindern, das zwei Dutzend sie wütend anstarrende Augen in ihr auslösten. Sie nickte und biss sich auf die Unterlippe. »Ich bin dabei.«
Sid nickte und setzte das Briefing fort, doch Ana hörte nicht mehr zu. Sie sah die Männer und Frauen an, die sie umgaben. Einen nach dem anderen hatte Sid davon überzeugt, dass die Herrschaft des Kartells sich dem Ende zuneigte. Alles, was es brauchte, waren genügend Menschen, die den Aufstand wagten. Diejenigen, die jetzt um den Tisch herumstanden, hatten ihm seine Version der Zukunft abgekauft.
Jeder von ihnen hatte anschließend eine eigene Gruppe rekrutiert. Diejenigen wiederum rekrutierten nun ihrerseits neue Gruppen. Es war eine schnell wachsende Revolution, die wie das Schneeballsystem eines Multilevel-Marketing-Unternehmens organisiert war. Das System vieler kleiner Zellen bot außerdem eine gewisse Chance, dass sich der Schaden begrenzen ließ, sollte eine einzelne Zelle tatsächlich vom Kartell entdeckt werden.
Sid schätzte, dass ihnen insgesamt bis zu fünftausend Menschen angehörten. Sie alle wussten, dass das verdammt wenig war im Vergleich zu den Anhängern des Kartells, aber unter den richtigen Umständen waren sie dennoch stark genug, um den Despoten, die momentan über ihre Städte herrschten, verheerende Schläge zu versetzen.
Neben Sid stand Nancy Wake. Sie arbeitete als Buchhalterin für das Kartell. Damit hatte sie Zugang zu all ihren Depots und wusste genau, wie es um ihre Vorräte bestellt war und über welche Bestände von illegalen Drogen, Waffen und Transportmitteln sie verfügten. Ihr Ehemann Wendell war der desillusionierte Kartell-Boss einer kleineren Gruppe. Nancy und Wendell waren am tiefsten von allen in die Struktur des Kartells in Houston eingedrungen.
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