Julia Neuberger
Wo er herkommt,
was er ist –
und was nicht
Aus dem Englischen von
Anne Emmert
Gewidmet dem Andenken an George Weidenfeld (1919–2016) und Anna Schwab (1887–1963)
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Einführung
Kapitel 1
Wo kommt Antisemitismus her?
Kapitel 2
Was ist Antisemitismus – und was nicht?
Kapitel 3
Wie fühlt sich Antisemitismus an?
Dank
Ausgewählte Literatur
Anmerkungen
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Dass mein Buch nun auch auf Deutsch erscheint, macht mich überglücklich. Im Jahr 2019 wurde ich in Deutschland eingebürgert, mit doppelter Staatsbürgerschaft. Angefangen hatte alles mit meiner Verärgerung über die Brexit-Entscheidung in Großbritannien, schon bald jedoch stellte sich eine völlig andere Regung ein: ein Gefühl der Zugehörigkeit zu Deutschland. Dabei hatten doch Deutsche meiner Mutter nach ihrer Flucht 1937 die Staatsbürgerschaft entzogen und viele Mitglieder meiner Familie auf beiden Seiten ermordet. Aber meine Großeltern wurden alle in Deutschland geboren. Unsere Wurzeln reichen väterlicherseits in Frankfurt und Umgebung und mütterlicherseits in Heilbronn am Neckar und Umgebung Jahrhunderte zurück. Meine Mutter stammt aus einer Familie von Heilbronner Winzern und kleinen Weinhändlern, die keine besonders frommen Juden waren. Väterlicherseits waren die Familienoberhäupter in der eher strenggläubigen und traditionellen Welt des Frankfurter Judentums abwechselnd Bankiers und Rabbis: Eine Generation verdiente gutes Geld, die nächste Generation gab es wieder aus.
Sie alle begegneten natürlich Antisemitismus, besonders nachdem Wilhelm Marr und seine Anhänger in den 1870er Jahren ihre Ansichten verbreiteten. Meine Großeltern väterlicherseits siedelten allerdings nicht wegen antisemitischer Vorfälle nach London über, sondern wegen Streitigkeiten innerhalb der jüdischen Gemeinde von Frankfurt, denn sie stammten aus der sehr orthodoxen Austrittsgemeinde beziehungsweise der größeren Einheitsgemeinde, die völlig zerstritten waren. So kam mein Großvater nach London, um bei seinem Onkel in der Bank der Familie zu arbeiten. Mein Vater und seine Brüder wurden in London geboren und zu englischen Gentlemen erzogen, sprachen aber ein tadelloses Hochdeutsch, an das meine Mutter, die als Heilbronnerin schwäbelte, nicht heranreichte.
Meine Urgroßmutter väterlicherseits floh 1939 nach Amsterdam, wurde jedoch aus Westerbork deportiert und in Sobibor ermordet. Viele weitere Familienmitglieder auf beiden Seiten kamen zu Tode. Die meisten wurden umgebracht, einige begingen Selbstmord, andere verhungerten. Das ist erschütternd. Trotzdem hat in meinen Augen Deutschland sein Bestes getan – Ausnahmen wie der Historikerstreit der 1980er Jahre bestätigen die Regel –, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, uns wieder willkommen zu heißen, sich der Schrecken von Rassismus und Antisemitismus bewusst zu sein und Abbitte und Wiedergutmachung zu leisten, wo immer es möglich ist. Deutschland hat sich nicht davor gedrückt, seine Verantwortung und Schuld anzuerkennen, anders als viele andere Länder, die in die Vernichtung der Juden durch den Nationalsozialismus verstrickt waren. Das weiß ich zu schätzen. Ich weiß es zu schätzen, dass in Deutschland Schulkinder über alte jüdische Friedhöfe geführt werden oder das Leben von Menschen erforschen, an die mit Stolpersteinen erinnert wird – eine hervorragende Initiative, die das Gedenken an jene, die einst in Deutschland lebten, arbeiteten und sich entfalteten, in das Pflaster der Straßen einbettet.
Da ich eine enge Beziehung zu Heilbronn pflege und mehrmals dort war, fühle ich mich mittlerweile als Teil dieses Landes. Ich fühle mich zugehörig, obwohl mein Deutsch nicht besonders gut ist. Deutsche Kleider passen mir, die deutsche Küche schmeckt mir. In einer Pension in Stuttgart lernte ich, den Kartoffelsalat nach Art meiner Großmutter zuzubereiten. Ich freue mich, Britin zu sein, und bin Großbritannien auf ewig dankbar, dass es meine Mutter und so viele andere verzweifelte jüdische Flüchtlinge aus Deutschland aufnahm. Ich bin sehr britisch und habe sogar einen Sitz im House of Lords, dem Oberhaus des britischen Parlaments. Jetzt bin ich auch aus vollem Herzen Deutsche, und man könnte sagen, ich fühle mich hier ebenfalls zu Hause. Allerdings gibt es dazu einen Warnhinweis, und der kommt in Gestalt dieses Buches.
Denn mein Buch befasst sich zwar zu einem erheblichen Teil mit aktuellen Ereignissen in Großbritannien, geht aber auch auf Deutschland, andere europäische Länder und die USA ein. Viele Jüdinnen und Juden sind entsetzt über die AfD in Deutschland und den hemdsärmeligen Antisemitismus in der Partei, auch wenn sie sich nicht als antisemitisch versteht. In Deutschland sind die Vorläufer des modernen Antisemitismus allgegenwärtig, in der evangelischen Kirche mit Martin Luther, der ein glühender Antisemit war, mit der »Judensau« an der Stadtkirche zu Wittenberg oder mit der Erinnerung an die sogenannten Hep-Hep-Unruhen im Jahr 1819 zu Beginn der jüdischen Emanzipation. Hier entwickelte auch Wilhelm Marr seine rassistischen Theorien, ein Denken, das sich unter dem Deckmantel der Anthropologie bald überall ausbreitete. Und dieses Denken ist bis heute nicht verschwunden. Der Hass ist gegenwärtig. Lange nach dem Schrecken des Holocaust, für den der deutsche Staat die Verantwortung übernommen hat, musste der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet erst noch klarstellen, dass Antisemitismus zwar in der äußersten Rechten und unter muslimischen Migranten in Deutschland gleichermaßen zunimmt, die größere Gefahr jedoch von Rechtsextremisten ausgeht. Und genau da hat sie auch ihren Ursprung. Der rechtspopulistischen AfD wird vorgeworfen, Hass gegen Flüchtlinge, Muslime und Juden zu schüren, und Alexander Gauland beschrieb den Holocaust als »Vogelschiss« in der deutschen Geschichte. Zahlen belegen, dass die allermeisten Gewalttaten gegen Juden in Deutschland von Rechtsextremen begangen werden. Militante Extremisten rufen mittlerweile offen zur Entweihung jüdischer Einrichtungen und zu Gewaltakten gegen Jüdinnen und Juden auf, berichtet die Linken-Bundestagsabgeordnete und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Petra Pau, die auch feststellt, dass immer mehr Menschen den Holocaust leugnen und antisemitische Agitation betreiben.
Erst 2018 war die Stadt Chemnitz das Epizentrum heftiger Zusammenstöße, als migrantenfeindliche Proteste und Gegendemonstrationen eskalierten. Nach dem Mord an einem Deutsch-Kubaner und der Festnahme eines Irakers und eines Syrers marschierten Tausende durch die Straßen. Zwar richteten sich die Proteste überwiegend gegen Angela Merkel und ihre Reaktion auf die Migrantenkrise 2015, doch auch Außenminister Heiko Maas hielt es für notwendig, sich mit einem Verweis auf die deutsche Geschichte mit den Gegendemonstranten zu solidarisieren. Deutschland hat also immer noch Probleme, obwohl es der Jugend auf so eindrucksvolle und bewegende Weise nahebringt, was damals geschah. All die Anstrengungen können nicht verhindern, dass Rechtsextreme mit ihrem Hass und Antisemitismus unter jungen Leuten Zulauf finden.
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