Seine Eltern haben offensichtlich keinen Schimmer, worum es wirklich geht. Er hat das Auge nicht geträumt. Es war wirklich da. Vielleicht gibt es im Haus einen Fahrstuhlgeist. Jetzt wäre es gut, einen Freund zu haben, mit dem er reden könnte.
Um sich abzulenken, denkt er an morgen. Endlich mal wieder nach draußen und mit seinem Vater Fußball spielen. Aber … wo ist eigentlich der Ball? Siedend heiß fällt ihm ein, dass er seinen nagelneuen Lederfußball im Fahrstuhl liegen gelassen hat. Mist! Dorthin geht er aber jetzt auf keinen Fall zurück. Morgen vor der Schule wird er bei dem Hausmeister Herrn Waschmaschinski nachfragen, ob ein anderer Fahrgast den Ball gefunden und bei ihm abgegeben hat. Vielleicht hat er ja Glück.
Der Hausmeister strahlt, als er am nächsten Tag auf Roderich zukommt, doch er hat keine guten Nachrichten für ihn. „Deinen Ball habe ich nicht gefunden. Tut mir leid! Ich habe zwei Extra-Touren durchs Haus gedreht, aber ohne Erfolg. Dafür aber habe ich eine Matratze, eine Zahnbürste und einen alten Katalog auf dem Dachboden gefunden. Hast du eine Idee, wem diese Sachen gehören könnten?“
Bei der Frage schaut er ihn freundlich, aber prüfend an. Roderich ist nicht richtig bei der Sache und schüttelt stumm den Kopf. Ihn interessieren keine Zahnbürsten, er will seinen Fußball wiederhaben.
Der Hausmeister verspricht, seine Augen weiter offen zu halten. „Frag doch mal bei den anderen im Haus nach. Vielleicht hat ihn jemand gefunden und mitgenommen.“
Mitgenommen hat ihn vielleicht jemand, aber kein Kind, sondern eher ein Geist, denkt Roderich. Plötzlich weiß er, was zu tun ist. Er muss einen Brief an den Ball-Entführer schreiben: den Fahrstuhlgeist!
Als er in die Wohnung kommt, setzt er sich sofort an den Schreibtisch, reißt eine Seite aus seinem Rechenheft und schnappt sich seinen Füller. Die Worte fließen wie von selbst aus seinem Stift:
Roderich faltet den Brief zusammen und geht entschlossen zum Fahrstuhl.
Seit seinem Horrorerlebnis mit dem Auge hat er getreu einem der Lieblingssätze seiner Mutter – Bewegung ist gesund! – einen großen Bogen um den Fahrstuhl gemacht und stattdessen die Treppe benutzt. Nun steht er wieder davor und drückt mit zusammengekniffenen Augen auf den Knopf. Surrend schiebt sich die Tür auf. Roderich betritt vorsichtig die Kabine. Er lauscht. Hinter der Rückwand rührt sich nichts. Langsam schiebt er den Brief durch den Schlitz. Als das Papier auf der anderen Seite zu Boden fällt, ertönt hinter ihm eine vertraute, aber unangenehme Stimme.
Es ist Klatsche. Wo der Angeber auftaucht, gibt es Ärger. Er geht ihm am besten aus dem Weg.
Gerade als Roderich dies tun will, tritt Klatsche in den Fahrstuhl und die Tür schließt sich hinter ihm. Jetzt sitzt er mit dem miesen Giftzwerg in der Kabine fest. Sofort beginnt Klatsche seinem schlechten Ruf gerecht zu werden.
„Sieh an, der kleine Tintenpisser aus dem vierten Stock. Na, wie wäre es mit einer gemeinsamen Fahrt in die Tiefe? Onkel Klatsche zeigt dir mal die richtig schönen Ecken im Haus.“
„Ich steig aus. Ich will keine blöden Ecken sehen“, bringt Roderich mit trockener Kehle hervor.
„Nur keine Panik, du kannst gleich wieder zu deiner Mama“, antwortet Klatsche und verzieht das Gesicht zu einem fiesen Grinsen.
Als der Fahrstuhl hält, sind sie im Keller gelandet.
„Los, steig aus! Worauf wartest du? Muss ich nachhelfen?“
„Aber wir sind im Keller und ich wohne im vierten Stock“, setzt Roderich an. Leider fällt ihm nichts Besseres ein. Klatsche weiß ja, wo er wohnt, nur zwei Stockwerke über ihm.
„Tja, dann musst du wohl deine Streichholzbeinchen ein wenig bewegen. Los, raus.“ Klatsche schubst Roderich in Richtung Tür.
Zwei Sekunden später steht Roderich vor dem verschlossenen Fahrstuhl und hämmert mit seinen Fäusten dagegen.
„He, nimm mich mit!“ Du elender Blödmann!, will er noch schreien, doch der Fahrstuhl fährt schon wieder hoch und er hört nur noch das immer leiser werdende Hohngelächter von Klatsche.
Die Lösegeldforderung
„Um ein Haar hätte ich mir den Hals gebrochen“, hört Roderich seinen Vater durch den Hausflur brüllen.
Roderich springt aus seinem Zimmer. „Was ist denn?“, fragt er besorgt.
„Dein Ball lag vor der Haustür und ich bin darüber gestolpert. Das ist passiert!“
„Was für ein Ball?“
Sein Vater schüttelt den Kopf. „Ja, was für ein Ball wohl? Dein neuer Lederfußball! Jetzt stell dich doch nicht so begriffsstutzig an.“
Roderich nimmt den Ball und dreht ihn in seinen Händen. Gleichzeitig mit seinem Vater entdeckt er schwarze Zeichen auf dem runden Leder.
„Roderich, was sollen denn die Buchstaben da drauf? Du hast deinen neuen Ball ja total verschandelt. Das ist doch kein Scrabblespiel.“ Das Gesicht seines Vaters hat sich leicht rötlich verfärbt.
„Ich war es nicht, Papa. Ehrenwort. Keine Ahnung, wer meinen Ball vollgekritzelt hat“, verteidigt sich Roderich.
Erst am Abend hat Roderich Zeit, die Buchstaben in Ruhe zu studieren. Mit gekreuzten Beinen hat er es sich auf seinem Bett bequem gemacht, um den Ball zu untersuchen. Durch das Fußballspielen mit seinem Vater sind einige Buchstaben schon etwas verwischt. Nach und nach entziffert er ein E, ein H, ein D, ein I, noch ein E, ein N, ein R und ein Z. Was soll das bedeuten? Roderich schreibt die Buchstaben in unterschiedlicher Reihenfolge in sein Deutschheft.
„Niehrzed? Das ergibt keinen Sinn!“ Roderich denkt laut, was ihm bei kniffligen Aufgaben oft auf die Sprünge hilft. „Diehrnze, Ziehrend – das bekomme ich ja nie raus.“
Roderich kann nicht einschlafen. Als um Mitternacht die Kirchturmglocken läuten, wälzt er sich noch immer unruhig von einer Seite auf die andere und murmelt Buchstaben vor sich hin. Plötzlich schreckt er auf und ist wieder hellwach.
„DEIN HERZ!“ Das ist die Lösung.
Es schaudert ihn. Der Geist kann doch nicht wirklich sein Herz haben wollen. Ein Herz von einem Tier könnte ein Geist vielleicht verlangen, aber nicht das von einem kleinen Jungen. Und wenn doch? Langsam kriecht die Angst wie eine Schlange in ihm hoch. Er knipst das Licht an. Über seinem Kopf leuchtet seine rote Nachttischlampe auf. Sie hat die Form eines Herzens. In diesem Moment versteht er. Die Herzlampe, das Geschenk von Tante Margot, könnte der Geist meinen. Aber woher kann der Geist wissen, dass er diese alberne Mädchenlampe besitzt?
Kaum hat er das Ballrätsel gelöst, da steht er vor dem nächsten Problem. Und überhaupt, wie soll er dem Geist die Lampe übergeben? Durch den Schlitz in der Fahrstuhlwand passt sie wohl kaum. Also muss er ihn wohl oder übel in seiner Sprechstunde aufsuchen. Jedes Kleinkind weiß: Geister empfangen immer nur zwischen Mitternacht und 1 Uhr morgens. Sie haben Sprechstunde wie Ärzte, eben die Geisterstunde.
Er kramt seine Taschenlampe aus der Kiste unter dem Bett hervor und leuchtet das Zimmer ab. Auf der Spielzeugkiste lässt er den Taschenlampenkegel verweilen. Dort schläft Klaus Teddy. Roderich hat beschlossen, dass man mitten in der Nacht auf dem Weg zu einem Geist einen Begleiter braucht.
„Klaus Teddy“, flüstert er durch den Raum, „du musst mit.“
Auf Socken schleicht er zur Wohnungstür, öffnet sie vorsichtig und drückt nach ein paar Schritten den Fahrstuhlknopf. Als sich die Metalltür öffnet, steht Roderich einem Mädchen mit langen dunkelblonden Haaren und einer Mütze auf dem Kopf gegenüber. Beide schreien vor Schreck gleichzeitig los.
Das Mädchen findet zuerst ihre Sprache wieder. „Was guckst du denn so blöd?“
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