• Das reife Strukturniveau kommt bei reaktiven Störungen vor und bedarf dort keiner besonderen Diagnose. Prämorbid wird auch bei posttraumatischen Störungen zumeist ein reifes (nicht belastendes) Strukturniveau angenommen, das dann nicht weiter dokumentiert wird.
• Das höhere Strukturniveau ist die Persönlichkeitsorganisation der »klassischen« Konfliktstörungen mit umschriebener Konfliktpathologie.
• Das mittlere Strukturniveau ist wahrscheinlich das der meisten Patienten in der psychotherapeutischen Praxis. Es bildet den Hintergrund vieler depressiver, somatoformer, narzisstischer und Angststörungen, bei denen eine Konfliktpathologie mit umgrenzten strukturellen Störungen zusammenwirkt. Dieses betrifft vor allem die Regulation des Selbst- und Selbstwertgefühls und der Affektregulation.
• Das niedere Strukturniveau ist die am geringsten ausgereifte Persönlichkeitsorganisation. Es ist typisch für schwere Persönlichkeitsstörungen.
Maßgeblich für die Diagnostik ist das aktuelle Strukturniveau, d. h. der Funktionszustand der letzten zwei Jahre. Kurzfristige Regressionen, die durch akute Belastungen und Krisen entstanden sind und diesen Zustand überformen, werden dabei nicht berücksichtigt.
5.3.3 Vollständige psychodynamische Diagnosen
Abschließend wird für jede ätiologische Gruppe als Beispiel eine vollständige Diagnose nach dem zuvor dargestellten Muster wiedergegeben (
Übersicht).
5.3.4 Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik
Mit der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) 153, die in den 1990er Jahren entstand, liegt ein standardisiertes Manual für die psychoanalytisch orientierte Diagnostik vor. Es erfasst die störungsrelevanten psychodynamischen Merkmale auf fünf Ebenen, den sog. diagnostischen Achsen. Ursprünglich wurde sie als reines diagnostisches Instrument für die Forschung entwickelt. Inzwischen ist sie zu einem Instrument der Therapieplanung und Veränderungsmessung weiterentwickelt worden und wird vor allem als Grundlage für die strukturbezogene Psychotherapie (
Kap. 17.3.4) verwendet.
Die aktuelle Version OPD-2 hält dazu an, auf das gegenwärtige Problem des Patienten als Therapiefokus zu zentrieren und die Behandlung daran zu orientieren. Dabei wird der Unterschied zwischen Konflikt- und Entwicklungs- und Traumapathologie betont und mit der darauf aufbauenden strukturbezogenen Psychotherapie ein spezifischer Ansatz für die Behandlung grundgelegt. 154Indem Veränderungen in den diagnostischen Kategorien messbar werden, können außerdem Behandlungseffekte überprüft werden.
Beispiele für vollständige psychodynamische Diagnosen aus der Praxis
• Beispiel 1: Reaktive Störung |
Syndrom: |
Angststörung (ICD-10: F43.22 Angst und depressive Reaktion gemischt), multiforme Somatisierungsstörung (ICD-10: F45.0) |
Ätiologisch: |
Somatopsychische Belastungsreaktion bei Kolonkarzinom |
Strukturell: |
Höheres bis reifes Strukturniveau |
• Beispiel 2: Posttraumatische Störung |
Syndrom: |
Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1), dissoziative Störung (ICD-10: F44.0, F44.5), depressive Störung (ICD-10: F32.2 schwere Episode), Zustand nach Suizidversuch (ICD-10: X60) |
Ätiologisch: |
Komplexe posttraumatische Störung nach langdauernder sexueller Missbrauchserfahrung |
Strukturell: |
Niederes Strukturniveau |
• Beispiel 3: Strukturstörung |
Syndrom: |
Anorexia nervosa (ICD-10: F50.0), Angststörung (ICD-10: F40.1 soziale Phobie), Borderline-Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.31). DD V. a. posttraumatische Störung |
Strukturell: |
Niederes bis mittleres Strukturniveau |
• Beispiel 4: Präödipale Störung |
Syndrom: |
Depressive Störung (ICD-10: F33.1 rezidivierende depressive Störung) |
Ätiologisch: |
Depressiv-narzisstische Persönlichkeit, Versorgungs-Autarkie- und Autonomie-Abhägigkeits-Konflikt |
Strukturell: |
Mittleres Strukturniveau |
• Beispiel 5: Konfliktstörung |
Syndrom: |
Alibidinie (ICD-10: F52.0 Mangel an sexuellem Verlangen), depressive Störung (ICD-10: F 32.0: leichte depressive Episode) |
Ätiologisch: |
Zwanghafte Persönlichkeit, Schuldkonflikt bei Lösung aus dem Elternhaus |
Strukturell: |
Mittleres bis höheres Strukturniveau |
• Beispiel 6: Psychosomatose |
Syndrom: |
Asthma bronchiale (ICD-10: F54, J45), depressive Störung (ICD-10: F34.1 Dysthymie), narzisstische Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.8) |
Ätiologisch: |
Chronische familiäre Belastungssituation |
Strukturell: |
Niederes Strukturniveau |
Der Vorteil dieses Konzeptes besteht darin, dass die Veränderungsmessung sich tatsächlich auf die störungsrelevanten Aspekte bezieht, die den Behandlungsfokus bilden und verändert werden sollen, und nicht auf beliebige Merkmale.
Die Diagnostik der Ausgangssituation und des Prozesses bzw. des Ergebnisses fußt auf einem klinischen OPD-Interview. In der systematischen Auswertung der Befunde werden die individuellen Merkmale – Symptome, Probleme, Beziehungsmuster, Konflikte, strukturelle Gegebenheiten usw. – den einzelnen Achsen zugewiesen (
Übersicht) und mit statistischen Normwerten verglichen. Dadurch wird das Besondere des Einzelfalls im Vergleich mit dem Durchschnitt erkennbar. Außerdem kann man aufgrund des Vergleichs zwischen Behandlungsbeginn und -ergebnis den therapeutischen Effekt beurteilen. Als Orientierungshilfe enthält das Manual Ankerbeispiele sowie eine genaue Beschreibung der Variablen und Anleitungen für ihre Einschätzung.
Fünf diagnostische Achsen der OPD
• Achse I – Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen
Auf einer Skala von 0 (nicht vorhanden) bis 3 (hoch) wird die Ausprägung von 19 Variablen für den Einzelfall beurteilt. Dazu gehören Schweregrad der Symptomatik, Leidensdruck, Einsichtsfähigkeit in psychodynamische Zusammenhänge, persönliche Ressourcen u. a.
• Achse II – Beziehung
Zur Diagnostik des Beziehungsverhaltens werden das habituelle Beziehungsverhalten und insbesondere die konflikthaften und dysfunktionalen, immer wiederkehrenden Beziehungsmuster beurteilt. Dabei werden konkrete Beziehungsepisoden, das Selbsterleben und das Objekterleben erfasst.
• Achse III –Konflikte
Die OPD beschreibt sieben zeitlich überdauernde Konfliktbereiche (
Kap. 5.3.2), die wiederum wie in Achse I auf Skalen beurteilt werden. Bei der Definition werden entwicklungspsychologische Annahmen vermieden, ohne dass diese damit als irrelevant gelten müssten. Außerdem gibt sie für reaktive Störungen die Möglichkeit vor, die Störung auf konflikthafte äußere Lebensbelastungen zurückzuführen. Schließlich wird zwischen einem aktiven und einem passiven Modus der Konfliktverarbeitung unterschieden und dieser dokumentiert.
• Achse IV –Struktur
Die Struktur wird für die Dimensionen Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, Abwehr, Objektwahrnehmung, Kommunikation und Bindung beurteilt. Dabei wird jeweils der Integrationsgrad von 1 (gut integriert) bis 4 (desintegriert) eingestuft.
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