Nachdem man im Interview den Anlass und die Umstände geklärt hat, die einen Patienten in die Behandlung führen, wendet man sich seiner Entwicklung zu. Dabei werden die belastenden Erfahrungen sichtbar, die das Leben geprägt haben, und wie sie verarbeitet worden sind. In diesem Zusammenhang interessieren besonders die Schwellensituationen und deren Bewältigung. Sie geben Auskunft über die Art und Effizienz der Bewältigung.
Bei der psychodynamischen Auswertung werden die Daten in Hinblick auf die intrapsychische und interpersonelle Verarbeitung interpretiert. Diese umfasst die verschiedenen Grade von Bewusstheit. Für die Beurteilung spielen die unbewussten Prozesse eine besondere Rolle, zum Beispiel: Identifikationen und Reaktionsbildungen, Aneignung von Haltungen und Werten oder die Entwicklung von Beziehungsstilen.
Bei »frühen Störungen« werden die bedeutsamen Erfahrungen und Belastungen nur erschlossen werden können, weil sie vorsprachlich sind und nicht erinnert werden können. Schlüsse ergeben sich aus groben Daten (neun Kinder, Geburt als das vorangegangene Geschwister kaum ein Jahr alt war …), aus familiären Konstellationen (Vater während der Schwangerschaft verschwunden …) oder aus psychosozialen Fakten (Zeugung kurz nach der Migration der Eltern, denen die mitteleuropäische Kultur und Sprache unbekannt waren …).
Besondere Bedeutung hat die Auslösesituation (
Kap. 3.2.4), in der eine Symptomatik in Erscheinung getreten oder exazerbiert ist. Sie ist ein bedeutender Markstein in der Entwicklung einer psychogenen Störung. Bei der Auswertung untersucht man, welche unbewussten Erfahrungen sich in der Auslösesituation niederschlagen. Dabei wird auch bedacht, ob persönlichkeitsspezifische inhaltliche Probleme und Konflikte nicht bewältigt werden können oder ob eine Belastung nicht bewältigt werden kann, weil dazu basale Fähigkeiten oder bestimmte Ichfunktionen nicht hinreichend verfügbar sind. Daraus ergeben sich Hinweise für die Unterscheidung zwischen reaktiver, posttraumatischer oder neurotischer Pathologie und zwischen Konflikt- und Entwicklungspathologie.
Die Interpretation der verschiedenen Daten unter neurosenpsychologischen Aspekten wird als psychodynamische Hypothese bezeichnet. Sie kann anfangs nicht mehr sein als eine Vermutung. Allerdings sollte sie so überzeugend sein, dass sie als Basis für die Behandlungseinleitung verwendet werden kann. Sie muss in der Behandlung überprüft und ggf. revidiert werden. Besonders überzeugend ist eine psychodynamische Hypothese, wenn sie auch die Übertragung und Gegenübertragung aus dem »szenischen Verstehen« des Interviews (
Kap. 5.2.1) mit einschließt.
Dazu ein Beispiel: Herr A dekompensiert nach der Geburt seines Sohnes mit einer Herzneurose. In seiner Biografie finden wir im Alter von 18 Monaten die Geburt seines Bruders, der wegen einer Behinderung alle Aufmerksamkeit der Mutter auf sich zog. Der Vater entzog sich der Familie durch Affären. Man kann annehmen, dass eine unverarbeitete Neid- und Aggressionsproblematik durch die Geburt des Sohnes aktiviert wurde. Es besteht ein Konflikt zwischen infantilen Bedürfnissen und Affekten, die zur Manifestation der Herzneurose beigetragen hatten. Dazu passt auch die ambivalente Haltung zwischen Idealisierung (eine Stunde zu früh erscheinen) und Entwertung (den Folgetermin vergessen), die gegenüber dem Untersucher sichtbar wird.
Die Ätiologie und die Klärung des Strukturniveans
Die Auswertung des Interviews hat nach der Klärung der Psychodynamik die Aufgabe, die ätiologische Zuordnung zu klären und die Störung in das Spektrum der Psychopathologie einzuordnen. Diese Zuordnung ist an den ätiopathogenetischen Gruppen der psychogenen Störungen (
Kap. 3.1) orientiert und geschieht anhand der Identifikation des Strukturniveaus. Daran entscheidet sich das Verständnis, das sich in der Behandlungsstrategie niederschlägt (
Kap. 16.3).
Bei den posttraumatischen und reaktiven Störungen sind der Anlass der Dekompensation in der Auslösesituation und damit die Klassifikation direkt erkennbar und müssen nicht psychodynamisch erschlossen werden. Bei der neurotischen Pathologie ergeben sich verschiedene Möglichkeiten (
Übersicht).
Hinweise für die Diagnostik des Strukturniveaus
Reaktive und posttraumatische Pathologie
• Bei den posttraumatischen und reaktiven Störungen ist der Anlass der Dekompensation in der Auslösesituation direkt erkennbar.
• Sie müssen nicht psychodynamisch aus den Daten erschlossen werden.
Neurotische Konfliktpathologie (Höheres Strukturniveau)
• Der Patient kann sich und die anderen als getrennte Wesen und ganzheitlich erleben.
• In seiner Lebensbewältigung scheitert er immer wieder an repetitiven Beziehungs- und Verarbeitungsmustern, in denen unbewusste Motive und Bedürfnisse unterdrückt werden.
• Diese beruhen auf infantilen konflikthaften Beziehungserfahrungen, die in seiner Biografie erkennbar sind.
• Dabei greift er vornehmlich auf infantile Überzeugungen sowie auf Mechanismen der Verdrängungsabwehr zurück.
• In der Gegenübertragung spürt man »falsche Verknüpfungen« zwischen dem Beziehungsangebot des Patienten (Übertragung) und sich als realer Person.
Präödipale Neurosenpathologie (Mittleres Strukturniveau)
• Der Patient kann sich und die anderen zwar getrennt und ganzheitlich erleben, verwendet den Anderen aber vornehmlich zur Stabilisierung seines Selbst und Selbstwerts.
• In seiner Lebensbewältigung scheitert er immer wieder, wenn die Selbstobjekt-Funktion des Anderen versagt.
• Das Defizit in der Selbststeuerung beruht auf infantilen Beziehungserfahrungen, die in seiner Biografie fassbar und als unzureichende Unterstützung, Spiegelung und Bestätigung erkennbar sind.
• Dabei greift er vornehmlich auf die Mechanismen der Idealisierung und Entwertung zurück, die auch in der Gegenübertragung spürbar werden (der Therapeut als »letzte Hoffnung« …).
Entwicklungspathologie (Niederes Strukturniveau)
• In der Auslösesituation erkennt man strukturelle Einschränkungen, welche auf Defizite basaler Fähigkeiten und Ichfunktionen hinweisen.
• Sie verweisen auf eine unzureichende Selbst-Objekt-Differenzierung und die defizitäre Integration von Selbst- und Objektrepräsentanzen (Spaltungsabwehr).
• Sie bewirken, dass die Selbst- und Beziehungsregulation in der Auslösesituation nicht aufrechterhalten werden kann.
• In der Gegenübertragung fühlt der Therapeut sich als »Container« für unverarbeitete Affekte des Patienten (Angst, Aggression).
5.3 Psychotherapeutische Diagnosen
Die Formulierung von psychotherapeutischen Diagnosen ist uneinheitlich und manchmal auch unübersichtlich, weil sich darin lange Traditionen niedergeschlagen haben, in denen verschiedene diagnostische und nosologische Ansätze vermischt sind. Die psychoanalytisch orientierte Diagnostik konzentriert sich traditionell vornehmlich auf die Psychodynamik und das Strukturniveau der Persönlichkeitsorganisation. Durch die Verknüpfung mit der deskriptiven Ebene gelangt sie zu einem mehrdimensionalen Diagnoseschema. Es enthält
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