»Was für eine schreckliche Geschichte«, sagte sie.
Yvonne nahm Pauls dreckigen Teller und stellte ihn auf ihren eigenen, stand auf und begann den Tisch abzuräumen.
»Das ist doch irre, dass sie ihn nicht mal anklagen«, fuhr Grace fort und ließ ihre Mutter nicht aus den Augen. »Ihr habt’s auch gesehen, oder? Er hat ihn kaltblütig erschossen.«
Sie gaben keine Antwort, und Grace fragte sich, ob ihnen für dieses Gespräch überhaupt die richtigen Worte zur Verfügung standen. Sie und ihre Eltern sprachen untereinander eine Mischung aus Englisch und Koreanisch, wechselten mitunter mehrmals in einem einzigen Satz zwischen den Sprachen hin und her, und keiner von ihnen war perfekt zweisprachig. Koreanisch war Graces Muttersprache, die aber schnell in den Hintergrund gedrängt worden war, sobald sie in die Schule ging, weshalb sie nun Kinderkoreanisch und Apothekenkoreanisch sprach, aber bei komplizierten Wörtern und Sätzen über ihre eigene Zunge stolperte. Paul und Yvonne sprachen einfaches Englisch, das ausreichte, um nichtkoreanische Kunden zu bedienen, aber obwohl sie nun seit dreißig Jahren in Kalifornien lebten, hatten sie die Sprache nie richtig gelernt. Meistens verstanden sich Grace und ihre Eltern. Sie verfügten über genug Worte, um alles Wichtige mitzuteilen, wie Grace fand – Bedürfnisse, Ängste, Trost, Liebe. Aber sie hatte keine Ahnung, was »anklagen« auf Koreanisch hieß, was wiederum bedeutete, dass ihre Eltern sie vermutlich nicht verstanden, wenn sie das englische Wort benutzte.
Miriams Meinung nach waren sie und Grace überbehütet und desinteressiert aufgewachsen, weil ihre Eltern mit ihnen immer nur über ihr eigenes winziges Universum gesprochen hatten: Schule und Kirche, Familie und Freunde. Für sie war klar, dass sich Paul und Yvonne ganz bewusst dafür entschieden hatten, die Töchter wie Orchideen in einem Gewächshaus zu halten, damit sie abhängig blieben und gehorchten, ohne nachzudenken. Es war unfair, Yvonnes mütterliche Hingabe als egoistische List zu verunglimpfen und damit die eigene Undankbarkeit zu rechtfertigen.
Grace wollte das Thema gerade fallen lassen, als Paul den Kopf schüttelte. »Du kennst nicht die ganze Geschichte.«
»Nein«, gab sie zu. »Aber ich weiß, dass er ein unbewaffneter Teenager war und jetzt tot ist.«
»Menschen machen Fehler. Die Polizei wusste nicht, dass er unbewaffnet war, und er lief vor ihnen weg.« Paul pulte mit seinem rissigen Fingernagel zwischen seinen Zähnen herum.
»Du kannst nicht ernsthaft behaupten wollen, es wäre seine Schuld gewesen.«
»Grace«, sagte er streng, und sie merkte, dass sie laut geworden war. Er schaute zu Yvonne hinüber, die neben der Spüle stand, eine Melone aufschnitt und so tat, als würde sie nicht zuhören. »Geuman dwo.«
Geuman dwo. Hör auf. Lass es sein. Es reicht. So hatten ihre Eltern sie als Kind zur Ordnung gerufen, ein scharfer Befehl, der ihre Autorität durchsetzte und Fragen im Keim erstickte. Jetzt ging er Grace nur noch gegen den Strich.
Sie sprach laut genug, dass Yvonne sie hören konnte. »Es ist jetzt zwei Jahre her«, sagte sie, und in ihrer Stimme lag die ganze Erbitterung über das monatelange erzwungene Schweigen. »Warum sagt ihr mir nicht, was passiert ist?«
Yvonne kam mit einer Schüssel voller hellgrüner Honigmelonenstücke an den Tisch zurück. In ihren Augen standen Tränen – sie zitterte vor Anstrengung, sie zurückzuhalten, trotzdem liefen sie über ihr verhärmtes Gesicht. Sie setzte eine Ecke des Plastiktabletts nach der anderen ab, als hätte sie Angst, einen Laut zu erzeugen.
»Tut mir leid, Umma«, sagte Grace. Ihre Wut wich einem viel schlimmeren Gefühl, einer Mischung aus Frust und Angst und Schuld. Yvonne setzte sich und tupfte sich die Augen ab.
Was da im Fernsehen passierte, in ihrem Newsfeed, draußen in der Welt, was anderen Menschen anderswo zustieß – das war sicherlich alles wichtig, aber nicht Teil ihres Lebens. Grace wollte nicht zulassen, dass es all das trübte, was sie als wahr empfand, die grundlegende Güte und den Wert der Menschen, die sie liebte. Denn sonst wäre sie kein Stück anders als Miriam.
Yvonne wischte mit dem Nagel ihres Ringfingers eine letzte Träne ab, die wie eine Perle aussah. Mit einem kurzen, abschließenden Seufzen rieb sie sich die Nase und spießte dann mit der winzigen Gabel ein Stück Melone auf. Sie hielt es Grace hin und die andere Hand darunter, um die Safttropfen abzufangen. »Probier mal«, sagte sie und setzte ein zerbrechliches Lächeln auf.
Grace verspürte den üblichen Widerstand – sogar zu Hause war es ihr peinlich, wenn Yvonne versuchte, sie wie ein Kind zu füttern. Aber vielleicht war es heute Abend besser, ihre Bemutterung zu akzeptieren. Sie öffnete den Mund und nahm den süßen Bissen entgegen.
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