Ray schluckte. »Okay, also um halb fünf. Ich weiß das zu schätzen, Shawn.«
»Ich muss dich warnen. Die erste Woche wird hart. Bei uns fangen viele junge Typen an, richtige Muskelprotze, die nach einer Woche hinschmeißen.«
»Ich habe keine Angst zu arbeiten. Ich habe Angst, nicht durchzuhalten, verstehst du?«
Das Risiko war hoch. Shawn wusste es, Nisha wusste es, Ray wusste es. Ein frisch Entlassener auf Bewährung konnte nicht wählerisch sein. Es gab noch andere Möglichkeiten, die besser bezahlt waren und bei denen man nicht mit den Möbeln fremder Leute quer durch das County rödeln musste. Die meisten davon waren allerdings illegal.
Ray hatte seit der Highschool keinen richtigen Job mehr gehabt. Shawn auch nicht, bis Manny ihm die Chance gegeben hatte. Früher hatten sie pausenlos mit der Baring Cross Crew rumgehangen, hatten Dummheiten gemacht, Ärger bekommen, Dope vertickt und Leute abgezogen, wenn sie Geld brauchten. Als sie aussteigen wollten, machte das die Arbeitssuche schwierig. Irgendwann war Ray so demoralisiert gewesen, dass er mit einer Spielzeugpistole, die er für Darryl gekauft hatte, eine Bank überfiel. Als er drei Stunden später gefasst wurde, trug er immer noch die siebentausend Dollar in bar bei sich, die er zusammen mit der Pistole in einen Beutel gestopft hatte. Das galt als bewaffneter Überfall. Ein dämliches Verbrechen, das ihm eine zwölfjährige Haftstrafe beschert hatte, die wegen guter Führung auf zehn reduziert wurde. Und jetzt war er wieder da.
»Aber schau dich an. Du hast es geschafft.« Ray zeigte mit einem Cookie auf Shawn. »Ich mag Jasmine übrigens. Sie tut dir gut.«
»Ich mag sie auch.«
»Nicht zu fassen, dass Mom das eingefädelt hat. Für die Kuppelei hätte sie den Nobelpreis verdient.«
Shawn lachte. Es stimmte. Vor ein paar Jahren war Tante Sheila ins Krankenhaus gegangen, um einen Knoten in ihrer Brust untersuchen zu lassen, und hatte ihren Besuch dazu genutzt, sich mit einer hübschen schwarzen Krankenschwester ohne Ehering anzufreunden, die, wie sie herausfand, geschieden war. Am Ende der Untersuchung hatte Tante Sheila es geschafft, Jazz zu einem Blind Date mit ihrem Ex-Knacki-Neffen, der auf ihrem Klappsofa wohnte, zu überreden. Der Knoten hatte sich als gutartig herausgestellt.
»Du solltest bei ihr Nägel mit Köpfen machen«, sagte Ray. »Der Mann in deinem eigenen Haus sein.«
Deinem eigenen Haus. Das war eine Spitze, aber Ray hatte den Anstand, sie zu überspielen, indem er sich einen weiteren Cookie in den Mund stopfte.
Shawn wusste, dass Ray ihn liebte, aber auch, dass sein Cousin ihm nie verzeihen würde, dass er da gewesen war, als Ray es nicht war. Während Ray im Knast gesessen hatte, war Shawn mit Rays Mom, Rays Frau und Rays Kindern zusammen gewesen. Es zählte nicht, dass sie Shawns Tante, Shawns Freundin, Shawns Nichte und Neffe waren – Rays Anspruch war größer, und das ließ er ihn spüren. Es sei nicht fair, hatte er einmal in seiner Wut zu Shawn gesagt. Die gleiche weinerliche Beschwerde hatte er ihm schon in ihrer Kindheit an den Kopf geworfen, wann immer Tante Sheila für Shawn Partei ergriffen hatte. Sie war Rays Mutter, warum sollte er also um ihre Gunst buhlen müssen?
Das Arrangement war als Übergang gedacht gewesen, aber nach einigen Monaten hatte Nisha Shawn gebeten zu bleiben. Die Kinder liebten ihren Onkel. Ray war sauer. Er sah seine ganze Identität als Ehemann, als Vater, als Mann infrage gestellt. Er warf Nisha vor, ihn ersetzen zu wollen, und Shawn, sich an seine Frau heranzumachen. Aber er saß im Gefängnis, konnte nichts ausrichten und gab am Ende bis auf gelegentliche Anfälle von passiver Aggression und Gemaule klein bei. Es war ihm lieber, dass Shawn ihr zu Hause half, als dass es Nisha in den Sinn käme, ihn zu verlassen. Also hielt er den Mund, und Shawn blieb. Sechs Jahre lang.
Darryl kam aus der Küche und nahm sich einen Cookie. Er sah seinen Vater an und lächelte verlegen, wollte ihm nah sein, wusste aber nicht, was er sagen sollte, und überspielte es durch intensives Kauen. Als Ray ihm auf die Schulter klopfte, lief der Junge vor Freude rot an. Neuerdings wirkte Darryl manchmal so erwachsen, dass Shawn fast das Herz brach, doch jetzt sah er wieder die ungetrübte Zärtlichkeit dieses Kindes.
»Wie läuft’s in der Schule?«, fragte Ray.
Darryl zuckte die Achseln. »Ganz okay.«
»Der Unterricht und so – alles gut?«
»Ja, alles gut.«
»Gut, gut.«
Shawn begriff, wie sehr Ray nach zehn Jahren ohne seine Kinder den Anschluss verloren hatte. Sie waren jetzt Teenager und keine kleinen Kinder mehr, die einfach drauflosplapperten. Von ihrem Alltag wusste Ray nicht viel und konnte ihnen deshalb nur sehr allgemeine Fragen stellen. Er würde seine Kinder erst kennenlernen müssen, und das bedeutete Arbeit – eine Arbeit, die er noch nie hatte machen müssen.
»Lernst du ordentlich? Hast du gute Noten?«, fragte Ray.
»Ganz okay.«
»Hauptsache, du schwänzt nicht den Unterricht«, sagte Ray zufrieden.
Darryl warf Shawn einen kurzen Blick zu und senkte dann den Kopf. Im Mai hatte Nisha einen Anruf von der Palmdale High bekommen. Darryl hatte nach den Osterferien an drei Tagen gefehlt und am nächsten Tag immer einen Entschuldigungszettel abgegeben, unterschrieben von »Laneisha Holloway«, auf dem stand, ihr Sohn sei krank gewesen und habe zum Arzt gehen müssen. Die Schulsekretärin sprach nicht aus, was Nisha nur zu gut wusste: dass Darryl vor Gesundheit nur so strotzte. Sie beschuldigte ihn auch nicht offen, die Unterschrift seiner Mutter gefälscht zu haben, sondern fragte Nisha stattdessen, ob es Darryl gut ginge und ob er noch öfter wegen Arztbesuchen freigestellt werden müsste.
Als Nisha Shawn später von dem Anruf erzählt hatte, war sie stolz auf ihre geistesgegenwärtige und ruhige Reaktion gewesen. Sie hatte getan, was ihrer Meinung nach alle Eltern getan hätten: Sie hatte Darryl gedeckt – mit einer dreisten Spontanlüge über eine neu entdeckte Getreideallergie – und sich geschworen, ihm zu Hause die Leviten zu lesen.
Dafür hatte sie Shawn eingespannt, und er hatte den Jungen beiseitegenommen und ein ernstes Gespräch mit ihm geführt. Er sagte ihm, dass er zur Schule gehen und auf seine Mutter hören solle, dann würde er nicht im Gefängnis landen. Ray wusste nichts davon, Nisha hatte ihm also nichts gesagt. Ganz wie Shawn vermutet hatte.
»Nicht dass ich ein großes Vorbild wäre. Ich war ein grauenhafter Schüler«, sagte Ray. »Ich habe ständig geschwänzt und den größten Mist gebaut.«
»Was denn?«, fragte Darryl mit echter Neugier.
»Ach, das willst du gar nicht wissen.« Ray lächelte verschämt und genoss im Stillen seine Erinnerungen.
»Nichts Gutes«, sagte Shawn. Rays Nostalgie bereitete ihm Sorgen. Shawn hatte die guten Zeiten nicht miterlebt, die Albernheiten und die Feiern, die sich mit den schlechten abgewechselt hatten. Rays Jugend war anders gewesen, und er hatte eine längere Kindheit gehabt. Damals hatte »in einer Gang sein« vor allem bedeutet, zu posen und mit Freunden abzuhängen. Ray sprach über diese Zeit wie ein abgehalfterter Sportler, der an seine Highschoolerfolge zurückdenkt und in weichgezeichneten Erinnerungen schwelgt.
»Dein Onkel ist immer so ernst.« Rays Lächeln verbarg nicht seinen Unmut. Shawn hatte ihn verärgert, hatte ihm den traurigen Versuch vermasselt, seinen Sohn mit seiner Vergangenheit als böser Bube zu beeindrucken – jene Vergangenheit, die ihm fast ein Jahrzehnt in einem Bundesgefängnis eingebrockt hatte.
Dasha rief aus der Küche: »Mom! Onkel Shawn! Sagt Darryl, er soll seinen Hintern hierherbewegen.«
Ray rief zurück: »Darryl kann hierbleiben. Komm auch, Little D. Der Abwasch kann warten.«
Der Wasserhahn wurde abgestellt, und Dasha kam an den Tisch.
»Umarm deinen Daddy mal«, sagte Ray.
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