Ich kann so lange arbeiten, wie ich will. Ich kann ewig aus dem Fenster schauen. Ich kann morgen nach Istanbul ziehen, wenn es der Beruf verlangt. In einer Zeit, die Flexibilität verlangt, habe ich die besten Karten. Ich schweige, wenn ich schweigen will, ich gehe einfach nur so durch die Straßen. Ich bin, wie ich bin. Und immer war. Als Spross berufstätiger Eltern wuchs ich bis zu meinem siebten Lebensjahr bei meinen Großeltern auf, ab dann verlief meine Kindheit mehr oder weniger allein. Ich fand das nicht schlimm. Ich fand das klasse. Ich schwänzte die Schule, um Eichhörnchen zu füttern, ich stellte im Wohnzimmer Schlachten zwischen Römern und Germanen nach, ich schoss mit einer Erbsenpistole durch das Fenster auf Hunde und Passanten. Ich hatte unbeschränkte Vollmachten, und wer schon als Kind die Carte blanche gezogen und als Geschenk empfunden hat, akzeptiert später kein anderes Blatt mehr. Es sei denn, man ist der unbegrenzten Möglichkeiten müde, es sei denn, man hat genug gesehen. Dann setzt man neue Prämissen. Liebe ist eine Prämisse, Geld auch, ebenso Friede, Ruhm und Sicherheit. Aber was zählt das gegen die Freiheit? Mir ist es immer nur um Freiheit gegangen. Trotzdem: Es bleiben Fragen. Zum Beispiel die, ob es Freiheit überhaupt gibt. Ich kenne eigentlich alle griechischen Göttinnen bei Namen. Die Göttin der Weisheit (Athene), die Göttin der Schönheit (Aphrodite), die Göttin der Zwietracht (Eris), aber die Göttin der Freiheit kenne ich nicht. Habe ich nicht aufgepasst? Oder existiert sie nicht? Dann hätte ich umsonst alle diese Opfer dargebracht. All diese Arbeit, dieses Kämpfen, dieses Verlassen. Lebenslange Plackerei für nichts? Freiheit von der Freiheit fällt mir dazu ein. In den Knast, um endlich Ruhe zu haben. Aber wahrscheinlich habe ich nur ihren Namen vergessen. Es kann einfach nicht sein, dass es im Olymp keine Göttin der Freiheit von Verabredungen und Beziehungsriten gibt. Und wenn es doch so ist, müssen wir eine erschaffen. Wir brauchen eine Madonna der Singles. Eine Schutzheilige der unbegrenzten Vollmachten. Eine Gebietsvertreterin der Carte blanche. Um was zu machen? Ich sag’s mal so: Ich träumte vor Jahren von einem sehr schnellen, schönen Auto. Im Traum sah ich mich darin jedes Wochenende nach Amsterdam fahren. Ich wachte aus dem Traum erst wieder auf, nachdem ich das Auto gekauft hatte und nur noch im Stau stand. Analog dazu sehe ich mich mit der Freiheit des Singles meistens auch nur den Abwasch machen.
Gerhard rief an. Wir redeten ein bisschen. Mir fiel auf, dass seine Stimme dynamischer war als sonst, ebenso die Verwegenheit seiner Pointen. Und sein Lachen war fast unheimlich. Verwechselte er mich mit jemandem? Ich fragte ihn, ob er auf ein Bier vorbeikommen wolle. O.k., sagte er, ich schau mal kurz rein. So für fünf Minuten. Na gut, sagen wir zehn. „Was ist denn da los?“, dachte ich. Als Gerhard dann in der Tür stand, stellte ich fest, dass er auch optisch etwas anders unterwegs war als sonst. Akkurater. Bei ihm ist immer alles sehr akkurat, gebügelt und auf Draht, aber das hier war akkurat bis in die Poren. Rasierwasser, Achsel-Deo, mehrere Tropfen Männerparfüm, plus ein eigenartiges Strahlen, ein Licht, das von unten kam, und als er im Sofa Platz genommen hatte, sah ich, dass es seine Schuhe waren. Seine Schuhe strahlten. Ich möchte fast sagen, außerirdisch. „Du hast ein Date“, sagte ich. Er nickte. Leider sei er nicht mehr ganz in Übung. Womit? Mit den Vorbereitungen. Sie hatten sich gestern verabredet, das heißt, er hatte 24 Stunden, um alles richtig zu machen. Er ist früh zu Bett gegangen, er hat den Tag mit einer Meditation begonnen, dann hat er Kung Fu trainiert, Streckübungen, Dehnen, auch kleine Spaziergänge um den Block. „Ich habe alles getan, um mich zu entspannen“, sagte Gerhard, „und jetzt bin ich total unentspannt.“ Ich bot ihm ein Bier an, aber er lehnte ab, weil man vor dem Date nicht trinken soll. „Aha“, sagte ich. Ich ging in die Küche, um das Bier zu holen, und dachte nach. Man darf vor dem Date nicht trinken. Man darf vor dem Date keinen Knoblauch essen. Man darf vor dem Date nicht onanieren. Was noch? Als ich zurückkam, wusste ich es. „Sag mal, Gerhard, hast Du mich eben nur angerufen, um an mir zu üben?“ Er bejahte das. Seitdem weiß ich, was Frauen zu hören bekommen, wenn wer Sex mit einer Unbekannten will. Und so geht’s natürlich auch nicht. Die Schlange Ka im Tonfall von Sinatra. Ich grinste und trank mein Bier und genoss Gerhards Neid. Ich hatte kein Date. Als er ging, gab ich ihm noch den guten Rat, auf der Straße seine Schuhe ein bisschen zu beschmutzen. Gerhard verstand sofort. „Du hast recht“, sagte er. „Sie sind zu devot gewienert. Aber wie viel?“ – „Wie viel was?“ – „Wie viel beschmutzen?! Wie viel ist lässig und wie viel ist nachlässig?“ Ehrlich gesagt, ich wusste es auch nicht.
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