Das Volk erfreute sich vor allem an der schriftlosen Kunst der Spielleute, die – anders als die Mönche – auf unmittelbaren Kontakt mit ihrem Publikum bedacht waren. Sie spielten mitreißend zum Tanz auf, begleiteten sich zu ihren Heldengesängen und wirkten bei den unterschiedlichsten Theateraufführungen und Gaukeleien mit. Anders als die strenge kirchliche Kultur setzten sie auf die Abenteuer-, Hör-, Lach- und Bewegungslust von Menschen, die für einen Augenblick wieder »Kind« werden und sich naiv freuen oder gruseln wollten.
Die Vertreter von Obrigkeit und Kirche reagierten säuerlich oder feindlich. Sie nannten die Spielleute »Lockvögel des Teufels«, verwehrten ihnen bürgerliche Rechte und machten sie damit zwangsläufig zu »Fahrenden«, die überall und nirgends auf der Welt zu Hause waren und von jedermann angegriffen werden konnten. Und bekam ein Fahrender ausnahmsweise einmal gegenüber einem Bürger oder einem Adeligen recht, so durfte er nur dessen Schatten schlagen, musste sich also mit einer symbolischen Genugtuung begnügen.
Dass man ihnen oft sogar die christliche Beerdigung verweigerte und sie auf freiem Feld verscharrte, belegt ein Spruch des Nürnberger Volkspoeten Hans Sachs: »Stolp, stolp, stölperlein, da wird ein Pfeifer begraben sein.« Volkstümliche Redensarten wie »Spielleute und Lumpen wachsen auf einem Stumpen« oder »Gigel, geigel, Fidelboge, was der Spielmann sagt, das ist erloge« beleuchten diese heikle soziale Situation und kommen natürlich nicht von ungefähr: Wer von der Hand in den Mund leben muss, kann in seinen Überlebensstrategien nicht zimperlich sein.
Um die Spielleute vom »ordentlichen« Teil der Bevölkerung abzugrenzen, gab es allerlei Kleiderordnungen. Anders als etwa kirchliche Sänger durften sie hier und da nur kurze Kittel tragen. Und weil sie vielfach die abgenutzten Kleider aus den Truhen der Reichen geschenkt bekamen, war ihre Tracht nicht selten buntscheckig oder von grotesker Pracht. Beliebt waren auch schuppenartige Überzüge, wie man sie von Papageno aus Mozarts Zauberflöte kennt. Aufgenähte bunte Lappen, welche die Behörden zur Kennzeichnung der Fahrenden manchmal ausdrücklich verlangten, verstärkten das Bild der Absonderlichkeit. Jüdische Musiker, die »Klezmorim«, wurden oft gezwungen, hohe, spitze Hüte aufzusetzen. Das am 1. August 1551 von Kaiser Ferdinand I. erlassene »Mandat des gelben Flecks« nimmt sogar den menschenverachtenden »Judenstern« aus der Zeit des Nationalsozialismus vorweg.
Sowenig die Spielleute einerseits galten, so unentbehrlich waren sie andererseits, um Freude und Farbe in den Alltag zu bringen und große Menschenansammlungen zu unterhalten. Nach einem Bericht der Limburger Chronik kamen anlässlich des Frankfurter Reichstags im Jahr 1397 außer achthundert Dirnen auch »funftehalp hondert farender lude, so spellude, pifer, dromper, sprecher und farende schuoler« in die Stadt. Wer Glück hatte, konnte sich dem Gefolge eines Fürsten anschließen und vielleicht sogar zum fest angestellten Trompeter aufrücken. In dieser Position trug er dann zur Ausgestaltung des höfischen Alltags bei, der im Fall Heinrichs XI. von Liegnitz mit den Worten beschrieben wird: »Ihro Fürstliche Gnaden liessen täglich 7 Trompeter neben Schlagung der Kessel-Drommel zu Tische blasen, sonsten übten sich I. F. G. täglich mit Ringe-Rennen, Spatzieren reiten, mit Tantzen, Mummereyen, Trincken und anderen Uppigkeiten und Kurtzweilen.«
Angesichts der Unkontrollierbarkeit fahrender Spielleute gingen die mittelalterlichen Städte dazu über, einige wenige Musiker zu »Stadtpfeifern« zu machen und mit Zunft- und Bürgerrechten auszustatten. Dass diese neuen städtischen Bediensteten gern über die angeblich geringe Kunst von »Bierfiedlern« und anderen unsteten Kollegen wetterten, war häufig Ausdruck reinen Neids. Denn so viele Stümper es unter den Fahrenden gegeben haben mag: Die meisten waren in der Welt herumgekommen, hatten viele musikalische Stile kennengelernt und spielten ohne Rücksicht auf verknöcherte Zunftregeln frei und virtuos auf. Bis heute steckt in jedem richtigen Musiker, und sei er noch so etabliert, auch ein Spielmann.
DAS EUROPÄISCHE MITTELALTER ist ein riesiger Schmelztiegel. Von älteren Hochkulturen unterscheidet es sich durch die erst sehr zögerliche, später jedoch zunehmende Bereitschaft, die Idee einer theologisch und philosophisch abgezirkelten Kunst mit der Virtuosität, Vitalität und Sinnenfreude von Volksmusik zu verschmelzen. Nur auf diese Weise konnte es zu den großen musikalischen Formen, zu der durchkonstruierten und zugleich blühenden Mehrstimmigkeit kommen, die man heute mit dem Etikett »Kunstmusik« versieht.
Deren Voraussetzung ist eine Notenschrift, die zeit-räumliches und visionäres Denken beflügelte. Oder umgekehrt gesehen: Die Bereitschaft zu einem solchen Denken ist die Voraussetzung für die Entdeckung der modernen Notenschrift gewesen. Hat all das etwas mit dem Wesen des Christentums zu tun? Oder mit dem neuen Wissenschaftsbegriff, der im europäischen Mittelalter aufkommt? Oder mit dem anbrechenden Zeitalter der großen Entdeckungen? Oder mit einer allmählichen Öffnung der Gesellschaft, die sich viele Jahrhunderte später einmal »aufgeklärt« nennen wird?
Eines jedenfalls ist sicher: Ebenso wenig wie die gotischen Dome der Phantasie eines einzelnen Baumeisters entsprungen sind, ist die mittelalterliche Musik losgelöst von der Gesellschaft denkbar, in welcher sie entsteht. Für jeden, der sich mit mittelalterlicher Musik beschäftigt, gilt somit der provokante Satz: »Wer nur was von Musik versteht, versteht auch davon nichts!«
»Soli deo gloria« oder
»Wes Brot ich ess, des Lied ich sing«?
Von den traditionellen Gattungen der Kirchenmusik
Beginnen wir mit der Motette. Sie trägt ihren Namen nach dem französischen »mot«, das heißt »Wort«; und das kommt so: Einige der mittelalterlichen Komponisten, die Teile der Liturgie zu einer mehrstimmigen Komposition verarbeiteten, sahen keinen Sinn darin, allen Stimmen denselben Text zu unterlegen. »Wenn es in einem mehrstimmigen Stück schon verschiedene Melodien gibt«, so fanden sie, »sollte es auch verschiedene Texte geben; erst dadurch bekommt jede Stimme ihren eigenen unverwechselbaren Charakter.« Die Bezeichnung »Motette« steht also für die auch textlich eigenständigen Stimmen, welche zum liturgischen »cantus firmus« – meist ein Ausschnitt aus dem gregorianischen Choral – hinzukommen.
Die ersten solcher mehrtextigen Kompositionen sind nach dem heutigen Stand der Forschung um 1200 in der Komponisten- und Sängerschule der Pariser Kathedrale Notre-Dame entstanden – dem bedeutendsten Zentrum hochmittelalterlicher geistlicher Musik. Obwohl die Komponisten auch dort vor allem Kleriker waren, wurde es ihnen zu langweilig, sich ausschließlich mit gottesdienstlichen Texten und Weisen zu beschäftigen. Vielmehr bezogen sie in ihre Stücke das in Paris kursierende weltliche und volkssprachliche Liedgut mit ein. Manchmal schmuggelten sie geradezu schlüpfrige Texte in ihre geistlichen Werke.
Im Laufe der Jahrhunderte gelang es den Kirchenoberen allerdings, die Kirchenmusik von solchen Unreinheiten wieder zu säubern. Zur Zeit ihrer Hoch- und Spätblüte unter Giovanni Pierluigi da Palestrina – um die Mitte des 16. Jahrhunderts – ist es dann mit dem Wildwuchs endgültig vorbei: Nicht nur wegen der Ausgewogenheit des musikalischen Satzes, sondern auch wegen der Einheitlichkeit der liturgischen Texte sind Palestrinas Kompositionen ein Muster an Reinheit und Makellosigkeit.
Wo von »Motette« die Rede ist, meint man freilich nicht nur eine bestimmte Gattung kirchlicher Musik, sondern auch einen bestimmten Kompositionsstil, nämlich die Polyphonie, das heißt »das vielfältig Klingende«. Die zu ihrer Blütezeit meist vierstimmige Motette besteht aus selbständigen, in unterschiedlichen Abständen einsetzenden und pausierenden, oft einander imitierenden Stimmen. In diesem Sinne kann man die Teile der mehrstimmigen Messe – Kyrie , Gloria , Credo , Sanctus mit Benedictus , Agnus Dei – als Spezialformen der Motette betrachten.
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