»Doktor«, sagte der Schließer, »die Frau dieses Herrn hier bedarf unverzüglich Ihres Beistandes.«
Der Freund des Doktors stand auf der Höhe von Heiserkeit, Aufgedunsenheit, Gesichtsröte, Skat, Tabak, Schmutz und Branntwein; der Doktor auf dem noch höheren Gipfel – er war heiserer, aufgedunsener, röter, skatversessener, tabakiger, schmutziger und branntweiniger. Der Doktor war erstaunlich abgeschabt und trug eine zerrissene, geflickte und wasserdichte Matrosenjacke, die an den Ellbogen offen und schwach mit Knöpfen versehen war (er hatte seinerzeit als erprobter Chirurg auf einem Passagierschiff Dienste getan), die schmutzigsten weißen Hosen, die der Mensch sich denken kann, Teppichpantoffel. »Kindbett«, sagte der Doktor, »dazu bin ich der Mann!«
Mit diesen Worten nahm der Doktor einen Kamm, der auf dem Kamin lag, und strich sein Haar in die Höhe –, was seine Art, sich zu waschen, zu sein schien, holte ein Kästchen oder Futteral von elendem Aussehen aus dem Schrank, worin sich seine Ober- und Untertasse und seine Kohlen befanden, hüllte sein Kinn in das muffige Umschlagtuch um seinen Hals und sah zuletzt wie eine gräßliche, medizinische Vogelscheuche aus.
Der Doktor und der Schuldner eilten die Treppe hinab, ließen den Schließer zu dem Schlosse zurückkehren und begaben sich schleunigst nach dem Zimmer des Schuldners.
Klein-Dorrits Geburt.
Alle Frauen des Gefängnisses hatten die Neuigkeit vernommen und befanden sich im Hofe. Einige von ihnen hatten bereits Besitz von den Kindern ergriffen und sie gastfreundlich weggeführt; andere boten leihweise von den kleinen Bequemlichkeiten ihres eigenen dürftigen Vorrats an; noch andere sprachen mit größter Beredsamkeit ihre Teilnahme aus. Die männlichen Gefangenen, die sich im Nachteil fühlten, hatten sich meistens auf ihre Zimmer zurückgezogen, um nicht zu sagen, geschlichen; und von den offenen Fenstern begrüßten einige den unten vorübergehenden Doktor mit Pfeifen, während andere mehrere Stockwerke weiter oben sarkastische Bemerkungen über die allgemeine Aufregung miteinander wechselten.
Es war ein heißer Sommertag, und die Gefängnisse brieten zwischen den hohen Mauern. In dem engen Zimmer des Schuldners leistete die Taglöhnerin und Ausläuferin Mrs. Bangham, die nicht selbst Gefangene war (obgleich sie es früher gewesen), aber das Verbindungsglied mit der Außenwelt bildete, freiwillige Dienste als Fliegenfängerin und Aufwärterin. Die Wände und die Decke waren von Fliegen geschwärzt. Mrs. Bangham, in mancherlei Kunstgriffen erfahren, wedelte mit der einen Hand den Patienten mit einem Kohlblatt, während sie mit der andern Insektenfallen von Zucker und Essig in Apothekertöpfe stellte und zu gleicher Zeit Gefühle ermutigender und glückwünschender Natur, die für den Augenblick paßten, äußerte.
»Die Fliegen quälen Sie, nicht wahr, meine Liebe?« sagte Mrs. Bangham; »aber vielleicht werden Sie dadurch abgelenkt, und das wird Ihnen guttun. Was die Fliegen des Marschallgefängnisses zwischen Kirchhof, Gewürzkrämerladen, Wagenremisen und Punschkneipen zu naschen bekommen, macht sie so fett. Vielleicht sind sie Ihnen zum Trost gesandt, wenn wir's nur wüßten. Wie geht es Ihnen jetzt, mein Liebe? Nicht besser? Nein, es läßt sich auch nicht erwarten. Es wird für Sie im Gegenteil zuvor noch schlimmer werden, ehe es Ihnen wieder besser gehen kann, das wissen Sie wohl, nicht wahr? Ja. Das ist recht. Daß ein kleiner süßer Cherub hinter Schloß und Riegel geboren wird! Ist das nicht hübsch, muß Sie das nicht guter Laune machen? Das ist wahrhaftig noch niemals hier geschehen, meine Liebe, ich könnte mich wirklich nicht entsinnen. Und Sie weinen gar noch?« sagte Mrs. Bangham, die Patientin immer mehr neckend. »Sie machen sich ja berühmt! Die Fliegen fallen zu fünfzig in den Topf! Alles geht so vortrefflich! Da kommt«, sagte Mrs. Bangham, als die Tür aufging, »da kommt ja Ihr lieber Herr Gemahl mit Doktor Haggage! Nun sind wir wirklich ein vollkommenes Kleeblatt, hoffe ich!«
Der Doktor war kaum eine derartige Erscheinung, daß er einem Patienten das Gefühl absoluter Vollkommenheit hätte einflößen können. Da er jedoch für den Augenblick die Absicht zu erkennen gab: »Wir sind bereit, alles zu tun, was in unsern Kräften steht, Mrs. Bangham; auch werden wir uns aus der Affäre ziehen, wie ein Haus aus einer Feuersbrunst«, und da er und Mrs. Bangham von dem armen, hilflosen Paar, wie alle Welt draußen es stets getan, Besitz nahmen, so waren die vorhandenen Mittel im ganzen so gut, wie bessere es hätten sein können. Der Grundzug in Doktor Haggages Behandlung war sein Vorsatz: Mrs. Bangham im Augenmerk zu behalten.
»Mrs. Bangham«, sagte der Doktor, ehe er noch zwanzig Minuten da war, »geht und holt ein wenig Branntwein, Ihr werdet mir sonst ohnmächtig.«
»Ich denke, Sir, aber nicht auf meine Rechnung«, sagte Mrs. Bangham.
»Mrs. Bangham«, versetzte der Doktor, »ich bin in Ausübung meines Berufes bei dieser Dame und habe nicht Lust, mich in Verhandlungen mit Euch einzulassen. Geht und holt ein wenig Branntwein, oder ich sehe noch, daß Ihr mir zusammenbrecht.«
»Man muß Ihnen gehorchen, Sir«, sagte Mrs. Bangham und stand auf; »wenn Sie aber die eigenen Lippen daran setzten, so denke ich, würde es nicht weniger schaden; denn Sie sehen recht elend aus, Sir!«
»Mrs. Bangham«, versetzte der Doktor. »Ihr habt nichts mit mir zu schaffen, sondern ich mit Euch. Laßt mich gefälligst aus dem Spiel. Eure Sache ist, zu tun, was man Euch heißt, und zu gehen und zu holen, was ich Euch befehle.«
Mrs. Bangham gehorchte; und der Doktor nahm, nachdem er ihr den Trank eingegeben, gleichfalls davon zu sich. Er wiederholte dies jede Stunde; denn er war sehr streng mit Mrs. Bangham. Drei bis vier Stunden verflossen auf diese Weise; die Fliegen gingen zu Hunderten in die Falle; und endlich erschien ein kleines Leben, kaum stärker als das ihre, unter der Menge von Halbtoten.
»Wirklich, ein recht hübsches kleines Mädchen«, sagte der Doktor; »klein, aber wohlgeformt. Hallo, Mrs. Bangham! Sie machen ja ein wunderliches Gesicht. Rasch fort, Ma'am, augenblicklich fort und etwas Branntwein geholt, oder Sie bekommen auch Mutterbeschwerden.«
Indessen hatten die Ringe von den unschlüssigen Händen des Schuldners wie Blätter von einem wintrigen Baume zu fallen begonnen. Keiner blieb in jener Nacht an seinem Finger, als er etwas Klingendes in des Doktors fette Hand legte. Inzwischen war Mrs. Bangham nach einer benachbarten, mit drei goldenen Kugeln gezierten Anstalt geeilt, wo sie wohlbekannt war.
»Danke«, sagte der Doktor, »danke. Eure gute Frau hat sich ziemlich erholt. Es geht ganz vortrefflich.«
»Ich bin sehr glücklich und dankbar, das zu hören«, sagte der Schuldner, »wenn es mir auch anfangs etwas schwer fiel, zu denken, daß –«
»Daß Ihnen ein Kind an solchem Ort geboren werden sollte?« sagte der Doktor. »Aber, ach was, Sir! was hat das weiter zu bedeuten? Etwas mehr Ellbogenraum ist alles, was wir brauchen. Wir leben hier ganz ruhig; wir werden hier nicht gehetzt; da gibt's keine Türklingel, Sir, mit dem die Gläubiger mahnen und uns Angst einjagen können. Niemand kommt hierher, um zu fragen, ob man zu Haus ist, oder sagt gar, er wolle auf der Türmatte warten, bis man nach Hause kommt. Niemand schickt Drohbriefe wegen Geldes hierher. Das ist Freiheit, Sir; das ist Freiheit! Ich hatte in der Heimat und Fremde, auf dem Marsch und an Bord eine gute Praxis, das versichere ich Sie. Aber ich wüßte nicht, daß ich sie je unter so ruhigen Umständen besorgt wie jetzt hier. Anderwärts sind die Leute gequält, gehetzt und gejagt, bald ängstlich um das eine, bald um das andere besorgt. Nichts dergleichen hier, Sir! Wir haben das alles selbst erlebt, – wir kennen das Schlimmste davon; wir sind bis auf den Grund gedrungen, wir können nicht mehr fallen, und was haben wir gefunden? Frieden. Das ist das rechte Wort, Frieden.«
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