»Die sind verrückt«, sagte Randa. »Im Islam heisst es nirgends, dass man das tun soll.«
»Was wissen wir schon davon? Wir beten ja nicht einmal.« Ich hatte manchmal Gewissensbisse deswegen.
»Ich bete ab und zu«, sagte Randa.
»Ach ja, wann denn?«
»Vor den Prüfungen … Hat mir viel genützt.« Sie lachte.
»Ich bete, wenn ich im Ramadan faste. Ein Mädchen an der Schule hat mir gesagt, dass Fasten nicht zählt, wenn man nicht betet.«
Randa zog die Brauen hoch. »Dabei behauptest du doch den halben Monat lang, du hast deine Tage und kannst nicht fasten!«
»Nicht den halben Monat. Ich schummle ein bisschen, aber keinen halben Monat lang.«
»Letztes Jahr waren wir in London und haben überhaupt nicht gefastet.«
»Wirklich?« Ich konnte mir den Ramadan in London oder London im Ramadan nicht einmal vorstellen.
»Wie kann man in London auch fasten? Der ganze Spass wäre dahin.«
»Stimmt.« Ich sah auf das Bild hinunter und dachte an all die Studentinnen, die den Hidschab, 8und an jene, die den Tob trugen, Haar und Arme von unserer Nationaltracht bedeckt.
»Würdest du je einen Tob tragen?«, fragte ich sie.
»Ja, aber ein Tob ist auch was anderes als das .« Sie stach mit dem Finger ins Time Magazine . »Er ist nicht so streng. Bei einem Tob sieht man den Haaransatz und die Arme.«
»Kommt drauf an, wie du ihn trägst und was du darunter anhast. So wie ihn manche Studentinnen tragen, sind sie wirklich verschleiert.«
»Pah«, schnaubte sie, und ich sah ein, dass ich nichts von der Uni hätte sagen sollen, denn das tat weh. Ich legte das Heft weg und ass meine Karamellcreme auf.
»Ich hab nicht genug gelernt«, sagte sie verdrossen. »Ich hab diese Prüfungen einfach nicht ernst genommen.«
»Es ist so ungerecht. Du bist nämlich klüger als ich.« Ich hatte es bloss an die Universität Khartum geschafft, weil ich stundenlang auf meinem fetten Hintern sitzen und auswendig lernen konnte.
»Ich sollte wohl glücklich sein«, sagte sie leise. »Und ich bin ja wohl auch glücklich, dass ich nach London gehe, obwohl ich vielleicht gar nicht dorthin gehe. Vielleicht irgendwohin ausserhalb Londons.«
Ich wartete, bis sie von Amîr anfangen und sich beklagen würde, dass er sie den ganzen restlichen Abend geschnitten hatte. Das tat sie, und ich erzählte ihr die Gerüchte über ihn und das Mädchen vom Arabischen Club.
Es war nach drei Uhr morgens, als Omar mich abholte. Ich hatte mir allmählich schon Sorgen gemacht und nach ihm herumtelefoniert. In Randas Haus schliefen alle, nur wir blieben auf und schauten Dallas -Videos. Zum Glück waren Mama und Baba in Kairo, sonst hätte Omar Schwierigkeiten bekommen. Als er schliesslich erschien, um mich abzuholen, sah er müde aus und roch nach Bier und noch etwas, es roch süsslich.
»Du fährst«, sagte er, und das gefiel mir nicht. Ich fuhr nach Hause, und er legte nicht Bob Marley in den Kassettenspieler wie sonst. Er sass einfach neben mir, ruhig und abwesend, aber er schlief nicht. Er roch, und ich erriet den Geruch, bloss, dass ich es nicht glauben wollte. Haschisch? Marihuana?
Wir hörten den Ruf zum Morgengebet, als wir zu unserem Haus einbogen. Der Wächter erhob sich von seinem Schlafplatz am Boden und öffnete uns das Tor. Der Gebetsruf, die Worte und ihr Klang drangen in mich, durch den Geruch im Auto hindurch und durch den Spass in der Disco bis an einen mir unbekannten Ort. Eine hohle Stelle. Eine Finsternis, die mich einsaugen und auslöschen würde. Ich parkte den Wagen, und der Wächter schloss das Tor hinter uns. Er legte sich nicht wieder hin.
»Omar, wir sind daheim … Omar.« Ich lehnte mich hinüber und öffnete die Autotür für ihn. Er machte die Augen auf und sah mich mit leerem Blick an. Wir stiegen aus, und ich schloss den Wagen ab. Kein Hauch war zu spüren. Die Nacht war wie versiegelt, kühlte nicht, floss nicht. Ich konnte den Gebetsruf immer noch hören. Er ging immer weiter, und nun hörte ich in der Ferne eine zweite Moschee die Worte aufnehmen, und sie klopften an meine Trägheit, stupsten eine verborgene Taubheit an, wie wenn mir die Füsse eingeschlafen wären und ich sie dann berührte.
Die Dienstboten regten sich, und aus dem hinteren Teil des Hauses hörte ich das brausende Wasser, jemand räusperte sich und nieste, Pantoffeln schlurften über den Betonboden ihrer Unterkunft. Eine Glühbirne ging an. Sie machten sich zum Gebet bereit. Sie hatten sich aus dem Schlaf gequält, um zu beten. Ich war hellwach und betete nicht.
Es erstaunte meine Freunde nicht mehr, dass Anwar nach den Vorlesungen auf mich wartete. Wir gingen meist zur Cafeteria der naturwissenschaftlichen Fakultät, weil uns dort weniger Leute kannten, obwohl Anwar wegen seiner politischen Aktivitäten eine vertraute Erscheinung war. Er sprach nicht oft über Politik mit mir, aber manchmal fragte er mich seltsame Dinge.
»Wie viele Hausangestellte habt ihr?«
Ich begann nachzuzählen, was ich noch nie getan hatte. »Die Köchin, das äthiopische Mädchen, der Boy, der Wächter und Mûssa, der Chauffeur. Das sind alle. Nein, einen Gärtner haben wir noch, aber der kommt nicht jeden Tag.«
»Macht sechs.«
»Ja … sechs.«
»Und ihr seid zu viert?«
»Wir haben aber viele Gäste«, verteidigte ich mich. Der Campus war fast leer. Es war Mittagszeit, Siestazeit, und alle schützten sich drin vor der Sonne, aber es war immerhin Winter und die Sonne erträglich. Um vier oder fünf schien sie weniger grell, und dann würde sich der Campus für die Abendvorlesungen wieder füllen.
»Findest du es denn nicht ungerecht, dass es so krasse Unterschiede in den Lebensumständen gibt? Im Westsudan herrscht Hungersnot. Unser Land ist eines der ärmsten der Welt.«
Ich rutschte auf meinem Stuhl herum und sagte: »Ich kann ja auch nichts machen.«
Seine Stimme wurde etwas sanfter, und so sah er mich auch an. »Aber das stimmt nicht. Wir müssen das System verändern. Es liegt immer an den Studenten und den Arbeitern, den Wandel zu bringen.«
Ich erzählte ihm, was ich im Time über die Iranische Revolution gelesen hatte. Es schien ihn zu belustigen, dass ich Time las. Vielleicht weil es auf Englisch geschrieben und mein Englisch sehr gut war, da ich eine Privatschule besucht hatte. Oder weil es eine amerikanische Zeitschrift war.
Ich wollte wissen, was er von der Revolution hielt. Er dozierte eine Weile darüber und begrüsste den Sturz des Schahs, war aber gegen einen islamischen Staat. Er sagte dasselbe wie Randa – »Wir müssen vorwärtsgehen und nicht zurück« – und sprach verächtlich von den schwarzen Tschadors.
»Dann hast du also ein sehr fortschrittliches Bild von der Rolle der Frau?« Ich lächelte erfreut über die Wendung, die das Gespräch nahm, denn jetzt konnte ich flirten und mir einmal mehr beweisen, dass ich ihm trotz meiner Herkunft gefiel.
Anwar schrieb für eine der Studentenzeitungen, die der Front. Die handschriftlichen Ausgaben wurden allwöchentlich ans Anschlagbrett der Cafeteria geheftet. Es gab jedes Mal einen Auflauf, die Studenten drängten sich davor und stellten sich auf die Zehenspitzen, um die obersten Seiten zu lesen, und hockten sich auf die Fersen für die unteren. Nach ein, zwei Tagen, wenn der Andrang nachgelassen hatte, riskierte ich auch einen Blick. Die meisten Artikel langweilten mich, aber seine las ich immer und versuchte ernsthaft, sie zu würdigen. Meist jedoch lenkten mich die Farben der Buchstaben und die Schönheit der Handschrift von der Bedeutung der Worte ab. Die Titel prangten in grossen, fliessenden Lettern und wirkten dreidimensional in ihrem kühnen Rot mit schwarzer Schattierung. Es gab auch einige Illustrationen: ein Blatt an einem Artikelende oder eine fliegende Taube. Auch Karikaturen, Glossen und ein zynischer Witz fehlten nicht. Innerhalb der Mauern der Universität herrschte Redefreiheit. Die Mauern der Universität waren heilig, und selbst die Polizei durfte nicht hinein. Aber alle wussten, dass es Spione gab. Stolz erzählte mir Anwar, dass die Geheimpolizei eine Akte über ihn hatte.
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