Leila Aboulela - Minarett

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Nadschwa wächst in einer privilegierten und westlich orientierten Oberschichtfamilie in Khartum auf. Nach einem Putsch flieht die Studentin mit ihrer Mutter und ihrem Bruder ins politische Exil nach London. Sie verliert ihren Wohlstand und bald auch ihre Eltern. Einst hatte sie davon geträumt, einen wohlhabenden Mann zu heiraten und eine eigene Familie zu gründen. Nun ist sie auf sich allein gestellt und muss ganz unten neu anfangen. Sie arbeitet als Dienstmädchen und Putzfrau bei reichen Familien, erkämpft sich eine unabhängige Existenz. Sie knüpft Freundschaft mit den Frauen der muslimischen Gemeinde. Und findet eine neue Heimat im Glauben. Als sie Tâmer kennenlernt, den ernsten und strenggläubigen Bruder ihrer Arbeitgeberin, muss sie sich entscheiden.
"Minarett" erzählt eindrücklich und aufschlussreich von Migration, sozialem Abstieg und von der religiösen Gemeinschaft als Ort der Heimat und der Unabhängigkeit. Eine überraschende, provokative Emanzipationsgeschichte, die einen Sturm in der englischen Presse auslöste.

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»Und wie geht’s an der Uni?«, fragte sie ihn.

»Ganz gut«, sagte er einsilbig.

»Wann kriegt ihr dieses T-förmige Lineal?«, fragte ich. Die Architekturstudenten fielen auf dem Campus nämlich immer auf, wenn sie mit ihrem Lineal rumspazierten.

»Nächstes Jahr.« Sein Langweilertum war ansteckend. Ich gab auf, lehnte mich in meinem Stuhl zurück, goss Pepsi in mein Glas und schaute den Tänzern zu. Einige Paare tanzten engumschlungen, andere linkisch auf Armeslänge Abstand. Sundari und ihr Marine tanzten dicht an dicht – seine Hände umschlossen ihre schmale Taille, und ihre lange Mähne berührte sie. Sie hob den Kopf von seinen Schultern, warf ihn in den Nacken und flüsterte ihrem Freund etwas zu. Er lächelte. Ich stellte mir vor, ich würde mit Anwar so tanzen, und ermahnte mich gleich, nicht so dumm zu sein, denn für genau so was hatte er doch bloss Verachtung übrig: westliche Musik und westliche Sitten. Ich hatte Randa nicht von ihm erzählt. Sie würde es nicht begreifen. Zwar würde sie ihn auch attraktiv finden, aber er war keiner von uns, nicht wie wir … Und Mitglied der Demokratischen Front; sie wüsste nicht einmal, was die Front war.

Omar bot Amîr eine Zigarette an. Ein Windstoss kam plötzlich auf und blähte das Tischtuch. Bald kam der Winter, und wir würden Strickjacken tragen, und es wäre zu kalt zum Schwimmen.

»Nächsten Monat gehe ich weg«, stiess Randa plötzlich hervor.

»Was!«, riefen Omar und ich gleichzeitig. »Wohin gehst du?« Omar und ich bedrängten sie mit Fragen.

Amîr zuckte nicht mit der Wimper und sagte kein Wort. Sie antwortete uns und liess ihn dabei nicht aus den Augen, um seine Reaktion zu beobachten und ihn zu prüfen.

»Ich gehe nach England, um dort Abitur zu machen.«

»Aber wolltest du nicht die mittlere Reife noch mal versuchen, um es dann vielleicht doch an die Uni Khartum zu schaffen?«

»Meine Eltern wollen, dass ich gehe.«

»Wie bei meinem Cousin Samîr«, sagte Omar. »Er hat es nicht geschafft und darf ins Ausland. Und wir sitzen hier fest.« Er sah Amîr an, der ihm zustimmen oder wenigstens die Ironie des Schicksals würdigen sollte. Es kam keine Reaktion.

»Oh, Randa, ich bin völlig durcheinander.« In den ganzen höheren Klassen hatte ich gehofft, wir würden zusammen an die Uni gehen. Und als ihre Noten nicht gut genug waren, hatte ich gehofft, sie würde es noch mal versuchen und ein Jahr später nachkommen. Ich hatte geträumt, wir wären zusammen, und sie würde Anwar kennenlernen und endlich auch wissen, was die Front war.

»Ich kann ja nach dem Abitur wiederkommen.« Ein harter Ton lag in ihrer Stimme. Und auf einmal verloren der Flitter im Haar und das Lipgloss etwas von ihrem Reiz.

»Was meinst du dazu, Amîr?« Sie wandte sich erneut ihm zu, und ihre Stimme war fast schon schneidend und konzentriert.

Er zuckte die Schultern. »Warum nicht?«

»Genau, warum nicht?« Sie liess sich in ihrem Stuhl zurückfallen.

So, das war’s dann, sie war ihm egal. Es tat mir leid für sie, und dazu kam der Schock, dass sie fortgehen würde. Wollte sie jetzt mit mir zur Toilette gehen und weinen? Verzweiflung lag auf ihrem Gesicht.

»Komm, Omar, gehen wir tanzen«, sagte sie.

Es gab eine Pause, bis mein Bruder begriffen hatte, was sie sagte, und entschieden hatte, ob er seine Zigarette ausdrücken oder mitnehmen wollte. Ich starrte auf den Boden. Sie begaben sich auf die Tanzfläche und versperrten mir die Sicht auf Sundari und ihren Marine. Ich schaute ihnen nicht beim Tanzen zu und ergab mich stattdessen den süsslichen Gesängen der Bee Gees. Amîr sagte nichts, und ich trank meine Pepsi aus und biss auf den letzten Eisklümpchen herum. Ich wartete, bis die langsamen Songs zu Ende waren und Omar und Randa zurückkommen würden.

Nach der Party ging ich mit zu ihr. Omar brachte uns hin und fuhr dann zu einer anderen, diesmal privaten Party weiter – einer dubiosen Veranstaltung, an der er mich nicht dabeihaben wollte. Sie wurden zahlreicher, seine rätselhaften Eskapaden, und damit auch die Orte und die neuen Freunde, zu denen ich keinen Zugang hatte.

Randas Eltern hatten gerade Gäste zum Dinner. Um der Gesellschaft auszuweichen, gingen wir durch die Küchentür ins Haus, an den fieberhaft arbeitenden Dienstboten vorbei und über einen Fussboden, der von Frittieröl und Küchenabfällen ganz klebrig und rutschig war. Randas Zimmer im Obergeschoss war sauber, und die Klimaanlage blies sanft. Randa zog eine langärmlige Bluse über ihr rückenfreies Shirt. »Damit wir uns was zu essen holen können«, sagte sie. Ich zupfte meine Bluse aus meiner Hose, und obwohl der untere Teil ganz zerknittert war, bedeckte er wenigstens meine Hüften und machte meine Kleidung etwas schicklicher.

Randas Eltern waren ein wenig verrückt, fanden meine Eltern. Sie hatten aus England, wo sie studiert hatten und Randa geboren worden war, auch exzentrische englische Gewohnheiten mitgebracht. Sie gingen spazieren, luden zum Dinner mit Kartenspiel ein und hatten einen jungen Hund. Randas Mutter war eine der allerersten Professorinnen im Land. Darum war Randas Unvermögen, es an die Universität zu schaffen, eine herbe Enttäuschung. Und jetzt wollten sie sie nach England auf die Schule schicken – auch dies ein kühnes Unterfangen, denn nur wenige Mädchen gingen allein im Ausland studieren.

Die Erwachsenen hatten fertiggegessen und waren im Garten, wir mussten also nicht alle begrüssen und Konversation machen. Kurz bevor das Dienstmädchen im Speisezimmer abzuräumen begann, füllten wir unsere Teller mit Essen und verzogen uns wieder in Randas Zimmer. Sie hatte wohl Liebeskummer wegen Amîr und ass nicht viel. Ich jedoch putzte meinen Teller leer und ihren noch dazu.

»Hast du Sundari mit ihrem Marine gesehen?« Ich lachte. »Das wird allmählich ernst …«

»Stell dir vor, ich hab ihr Auto neulich auf dem Parkplatz vor dem Marine House gesehen.«

»Das soll wohl ein Witz sein?«

»Nein, und es war während der Siesta!«

Ich kreischte und Randa lachte. Sie wurde wieder sie selbst, und bald kicherten wir zusammen und hechelten alle aus der Disco durch (ausser Amîr, natürlich) – was sie anhatten, mit wem sie getanzt hatten und wie eng. Ich wartete, bis sie Amîr erwähnen würde, aber sie tat es nicht. Sie trug die leeren Teller in die Küche und sagte, sie werde ein Dessert mitbringen.

Allein in ihrem Zimmer, tat ich das, was Mama mir jahrelang vergeblich abzugewöhnen versucht hatte: Ich schnüffelte herum. Ich öffnete Randas Schränke und begutachtete ihre Schubladen. Ich fand ein Foto von uns beiden in der Schule in der gleichen Uniform – dunkelblaue Schürze und weisser Gürtel. Arm in Arm lächelten wir in die Kamera. Es war schön damals, Randa jeden Tag zu sehen; neben ihr in der Klasse zu sitzen, während der Stunden zu schwatzen und die Lehrer zu ärgern, Sandwiches auszutauschen und aus derselben Flasche Double Cola zu trinken.

Ich blätterte in einer Jackie 7und fand sie kindisch – warum Randa sie sich wohl noch immer aus London zuschicken liess? Ich stöberte in einem alten Time Magazine . Chomeini, der Iran-Irak-Krieg, Mädchen, die im schwarzen Tschador marschierten, Studentinnen … Eine Frau hielt eine Flinte in der Hand. Sie war von Kopf bis Fuss verhüllt und verborgen.

Randa kam mit zwei Schalen Karamellcreme, Äpfeln und Bananen ins Zimmer.

Ich legte das Heft auf den Boden und griff nach meiner Schale.

»Völlig zurückgeblieben«, sagte sie mit einem Blick auf das Foto und gab mir einen Löffel. »Wir sollten vorwärtsgehen und nicht ins Mittelalter zurück. Wie kann eine Frau in diesem Aufzug arbeiten? Wie kann sie in einem Labor tätig sein oder Tennis spielen oder irgendwas tun?«

»Ich weiss nicht.« Ich löffelte die Karamellcreme, starrte auf das Heft und überflog den Artikel.

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