Der Aufzug ist altertümlich, so dass ich an der Tür rütteln muss. Der Lärm dröhnt durch die elegante Stille des Hauses. Ich will den Knopf ins zweite Stockwerk drücken, aber auf dem ersten Knopf steht eins bis drei, auf dem zweiten drei bis vier und auf dem dritten vier bis sechs. Ich versuche mir einen Reim darauf zu machen, bin aber noch immer verwirrt. Ich beschliesse, lieber die Treppe zu nehmen. Über mir fällt eine Tür ins Schloss, und eilige Schritte kommen die Stufen herunter. Ein hochaufgeschossener junger Mann mit spriessendem Bart und Lockenschopf taucht vor mir auf. Ich halte ihn auf und frage ihn wegen des Aufzugs.
»Das sind die Nummern der Wohnungen und nicht der Stockwerke.« Er spricht Englisch, als wäre es seine Muttersprache, aber sein Akzent ist nicht von hier. In London errät man die Herkunft der Leute nur mit Mühe. Wäre er Sudanese, so würde er als hellhäutig gelten, aber ich kann ja nicht wissen, ob er einer ist.
»Ach so, danke.« Ich lächle, doch er erwidert das Lächeln nicht.
Stattdessen wiederholt er: »Sie müssen einfach auf die Nummer der Wohnung drücken, zu der Sie wollen.« Seine Augen sind wässrig braun, und es glänzt kein Scharfsinn darin, ganz im Unterschied zu Anwar, sondern Intuition. Ja, vielleicht ist er empfindsam, aber nicht besonders klug, nicht so schlagfertig und blitzgescheit wie die meisten jungen Leute.
Ich danke ihm noch einmal, und er neigt ein wenig den Kopf und zuckt mit den Schultern, um den Riemen seiner Tasche zurechtzurücken. Die Jugend gibt uns einen Vorgeschmack auf das Paradies, heisst es. Als er sich entfernt und das Gebäude verlässt, wird alles wieder wie sonst.
Ich fahre hoch, öffne die Lifttür, betrete einen eleganten, gesaugten Teppich und mache hoffnungsvolle Schritte auf die Wohnung zu. Ich werde mit dem kleinen Mädchen auf den Platz gegenüber gehen. Ich werde mit ihr zur Moschee gehen und es so einrichten, dass ich mit den anderen beten und danach die Enten in Regent’s Park füttern kann. Sehr wahrscheinlich hat die Wohnung Satellitenfernsehen, und ich kann einen ägyptischen Film bei ART und die Nachrichten auf al-Dschasîra sehen. Letzte Woche hörte ich einen Vortrag, und diese Worte sind mir im Gedächtnis geblieben und haben mich am meisten berührt: Die Gnade Allahs ist weit wie das Meer. Unsere Sünden sind ein Lehmklumpen im Schnabel einer Taube. Die Taube sitzt auf einem Zweig am Rand dieses Meers. Sie muss bloss ihren Schnabel öffnen .
Erster Teil
»Omar, bist du wach?« Ich schüttelte den Arm über seinem Gesicht, der seine Augen verdeckte.
»Hmm.«
»Steh auf.« Sein Zimmer war angenehm kühl, weil er die beste Klimaanlage im Haus hatte.
»Ich kann mich nicht rühren.« Er nahm den Arm vom Gesicht und blinzelte mich an. Ich wich mit dem Kopf zurück und rümpfte wegen seines Mundgeruchs die Nase.
»Wenn du nicht aufstehst, nehme ich das Auto.«
»Im Ernst, ich kann nicht … ich kann mich nicht rühren.«
»Na, dann fahre ich ohne dich.« Ich ging an seinem Schrank und dem Michael-Jackson-Poster vorbei zum anderen Ende des Zimmers. Dort schaltete ich die Klimaanlage aus. Das Gerät verstummte geräuschvoll, und die Hitze lauerte draussen und wartete darauf, sich hereinzustürzen.
»Warum tust du mir das an?«
Ich lachte und sagte munter: »Das wird dich aus den Federn jagen.«
Unten trank ich Tee mit Baba. Er sah immer so gut aus am Morgen, frisch geduscht und nach Rasierwasser duftend.
»Wo ist dein Bruder?«, brummte er.
»Kommt wohl gleich runter«, sagte ich.
»Und wo ist deine Mutter?«
»Es ist Mittwoch, sie geht ins Fitnesstraining.« Es verblüffte mich stets, wie unbeirrbar Baba Mutters Terminkalender vergass und wie seine Augen hinter den Brillengläsern besorgt ins Leere blickten, wenn er von ihr sprach. Er hatte nach oben geheiratet, um voranzukommen. Seine Lebensgeschichte bestand darin, wie er es aus bescheidenen Verhältnissen zum Stabschef des Präsidenten brachte, nachdem er in eine alte, vermögende Familie eingeheiratet hatte. Ich hörte mir die Geschichte ungern an, sie verwirrte mich. Ich glich allzu sehr meiner Mutter.
»Verwöhnt«, murmelte er über seiner Teetasse, »ihr seid alle drei verwöhnt.«
»Ich werde es Mama sagen, dass du so über sie sprichst!«
Er verzog das Gesicht. »Sie ist zu nachsichtig mit deinem Bruder. Das ist nicht gut für ihn. Als ich so alt war wie er, schuftete ich Tag und Nacht; ich wollte es zu etwas bringen …«
O nein, dachte ich, komm nicht wieder damit.
Man muss es mir angesehen haben, denn er sagte: »Natürlich willst du nicht auf mich hören …«
»O Baba, tut mir leid.« Ich herzte ihn und küsste ihn auf die Wange. »Wunderbares Parfum.«
»Paco Rabanne.« Er lächelte.
Und ich lachte, denn keinem Vater in meinem Bekanntenkreis lag so viel an seiner Kleidung und an seinem Aussehen wie ihm.
»So, es wird Zeit«, sagte er, und das Ritual seines Abschieds begann. Der Boy erschien aus der Küche und trug seine Aktentasche zum Auto. Mûssa, der Fahrer, sprang aus dem Nichts herbei und öffnete ihm den Schlag.
Ich sah zu, wie sie davonfuhren, und dann stand nur noch der Toyota Corolla in der Auffahrt. Er hatte Mama gehört, aber letzten Monat hatten Omar und ich ihn geschenkt bekommen. Mama besass jetzt ein neues Auto, und Omar benutzte sein Motorrad nicht mehr.
Ich sah in den Garten hinaus und auf die Strasse dahinter. Es waren keine Fahrräder unterwegs. Ich hatte einen Verehrer, der unentwegt an unserem Haus vorbeiradelte. Manchmal kam er drei- oder viermal am Tag. Seine Augen waren hoffnungsfroh, dabei verachtete ich ihn. Aber blieb die Strasse wie jetzt leer, so war ich enttäuscht.
»Omar!«, rief ich von unten. Wir würden zu spät zur Vorlesung kommen. Zu Beginn des Semesters, unseres allerersten an der Universität, waren wir immer sehr rechtzeitig aufgebrochen. Doch sechs Wochen später entdeckten wir, dass es angesagt war, erst in letzter Minute aufzutauchen. Alle Dozenten erschienen zehn Minuten nach der vollen Stunde und kamen in die Säle voll erwartungsvoller Studenten hereingerauscht.
Ich hörte keinen Ton von oben und sauste wieder die Treppe hoch. Nein, das Bad war leer. Ich machte die Tür zu Omars Zimmer auf, und der Raum war wie erwartet ein Brutofen. Doch da lag er in tiefem Schlaf hingestreckt und schnarchte. Er hatte das Bettzeug abgestrampelt und lag schweissnass und erschlafft da.
»So, das reicht. Ich fahre jetzt, ich hab nichts mehr mit dir zu schaffen.«
Er rührte sich ein wenig. »Was’n?«
In meiner Stimme lag Ärger, aber ich hatte auch Angst. Angst vor seiner Schläfrigkeit, an der keine Krankheit schuld war; Angst vor seiner Lethargie, über die ich mit niemandem sprechen konnte.
»Wo ist der Schlüssel?«
»Hä?«
»Wo ist der Autoschlüssel?« Ich warf seine Schranktür auf.
»Nein, in meiner Jeans … hinter der Tür.«
Ich zog den Schlüssel aus der Tasche, und Münzen fielen heraus und eine Schachtel Benson & Hedges.
»Wehe, wenn Baba das erfährt.«
»Mach die Lüftung wieder an.«
»Nein.«
»Bitte, Nana.«
Ich liess mich durch den Kosenamen ein wenig erweichen. Die Zwillingssymbiose packte mich, und vorübergehend war ich es, die sich so erhitzt und todmüde fühlte. Ich schaltete die Klimaanlage wieder ein und stapfte aus dem Zimmer.
Ich kurbelte das Autofenster hoch gegen den Staub und damit der heisse Wind mein Haar nicht zerzauste. Gern hätte ich mich wie eine emanzipierte junge Studentin gefühlt, die selbstbewusst am Steuer ihres eigenen Autos sass. War ich schliesslich nicht eine emanzipierte junge Frau, die ihren Wagen eigenhändig zur Universität fuhr? In Khartum gab es nur wenige Autofahrerinnen, und an der Universität waren nicht mal dreissig Prozent der Studenten Mädchen – wenn das nicht Grund für zu viel Selbstvertrauen war. Trotzdem war es mir lieber, wenn Omar auch da war, wenn Omar fuhr. Ich vermisste ihn.
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