Sein Ruf eilte Lorenzo bis weit über die Grenzen Luccas hinaus und hatte ihm etliche sehr ergiebige Aufträge eingebracht. Längst hätte er sich eine luxuriöse Villa in Mailand oder Florenz leisten können. Aber Lorenzo war bodenständig geblieben. Ihm gefiel es in Lucca, wo er aufgewachsen war und die Wurzeln seiner Ahnen lagen. Und er war diszipliniert und fleißig, wie er es vom Patrone, seinem Vater gelernt hatte. Nur weil sein Reichtum gesichert war, würde er nicht die Hände in den Schoß legen.
»Lorenzo? Wie war dein Tag?«, versuchte Giulia erneut seine Aufmerksamkeit zu erlangen.
Sein leicht gesenkter Kopf schreckte hoch, die weltentrückten, matten Augen gewannen wieder an Glanz und seine Schultern strafften sich. Mit einem Seufzer nahm er die Espressotasse und trank aus. »Entschuldige, Liebes. Lass uns rüber ins Wohnzimmer gehen. Ich muss etwas mit dir besprechen.«
Sein Verhalten war wirklich ungewöhnlich. Normalerweise scherzte er ein wenig mit ihr, wenn er heimkam, bezog Giulia in seine Geschäfte ein, indem er ihr von den Immobilien und seinen Erlebnissen mit Kunden erzählte und war ganz versessen darauf, nach dem Essen seine Tochter in die Arme zu nehmen. Vor allem aber war er nie so ernst, egal wie stressig sein Tag gewesen war. Irgendwie passte sein Verhalten heute nicht zu ihm.
Giulia ignorierte das schmutzige Geschirr. Die Küche aufräumen und den Geschirrspüler füllen konnte sie auch später. Etwas Brisantes lag in der Luft.
Lorenzo hatte bereits die Bremse des Stubenwagens gelöst und diesen vor sich her ins Wohnzimmer geschoben, und sie folgte ihm gespannt darauf, was ihn so sehr beschäftigte.
Das Wohnzimmer war großzügig angelegt, mit einer gelungenen Zusammenstellung aus erlesenen antiquarischen Vitrinenschränken und modernem Sofa bestückt. Eine doppelflügelige Tür führte hinaus auf die Terrasse, die ebenfalls ausreichend Platz bot. Die Wohnzimmerwände waren in dezenten Ockerabstufungen marmoriert, und schlossen zur weiß gestrichenen Decke mit einer Stuckleiste ab. Alles passte sehr gut zusammen. Lorenzo hatte einen ausgefeilten Geschmack und Giulia zu jedem einzelnen Möbelstück erklärt, warum ihm dies gefiel. In der Art und Weise wie er dies tat, hatte sie nie das Gefühl, dass er lehrmeisterlich war und sie wie ein Dummchen behandelte, obwohl sie sich aufgrund ihres einfachen Schulabschlusses und der abgebrochenen Lehre als Floristin manchmal minderwertig fühlte. Aber sie lernte von ihm, und das war gut so.
»Komm, setz dich zu mir«, sagte Lorenzo und klopfte überflüssigerweise mit der Hand auf die Sitzfläche des Sofas. Giulia saß immer neben ihm, einfach weil sie es liebte, sich eng an ihn zu kuscheln. Im Augenblick allerdings war ihr nicht danach. Seine ernste Miene schürte ihr Unwohlsein. Fast fühlte sie sich wieder wie das Hausmädchen, das sie noch vor rund einem Jahr gewesen war, und ihr Herz klopfte hart in ihrer Brust. Hatte sie vergessen etwas zu erledigen, was er ihr aufgetragen hatte? Eigentlich war sie sich keiner Schuld bewusst, und selbst wenn dies mal geschah, machte er deswegen kein Aufhebens.
Lorenzo nahm ihre Rechte in seine Hand und zog sie auf seinen Oberschenkel. Die Wärme seines Körpers strahlte durch die leichte Sommerhose und sie hätte liebend gerne ihre Finger in seinen muskulösen Oberschenkel gegraben. Aber dies war nicht der geeignete Augenblick.
»Ich muss dir etwas sagen, Giulia, was für dich vielleicht ein wenig unangenehm ist.« Er schaute sie an und sie erwiderte seinen Blick aus den dunklen Augen. Für einen Moment verharrte er, als suchte er noch nach den passenden Worten. »Der Patrone hat mich angerufen. Heute Nachmittag.« Wiederum hielt er inne, als hätte er die rechten Worte noch nicht gefunden, ihr eine unangenehme Botschaft zu übermitteln. »Also, um es kurz zu machen: Federico ist wieder da.«
Giulia erstarrte. Binnen Sekunden jagten Bilder an ihrem inneren Auge vorbei. Die Morenos im Doppelpack, äußerlich einander so ähnlich, dass sie kaum auseinander zu halten waren. Elegant gekleidet, muskulös, maskulin, sicher im Auftreten. Aber bei intimer Begegnung von so unterschiedlichem Charakter, dass Giulia bei dem Gedanken an ihren Schwager ein kalter Schauer überflutete.
Lorenzo drückte ihre Hand ein wenig fester. »Federico stand heute plötzlich bei meinen Eltern vor der Tür. Und er war nicht allein. Er hat ihnen seine … Also, er hat ihnen seine Frau vorgestellt.«
Für Sekunden wurde Giulia schwarz vor Augen und sie blinzelte mehrmals, bis Lorenzos Gesicht wieder Konturen annahm. »Dein Bruder hat geheiratet?«, stieß sie mühsam hervor. »Wen?«
So, wie sie Federico kennengelernt hatte, unsensibel und dominant, konnte sie sich nicht vorstellen, dass sich eine Frau in ihn verliebte. Nach seiner überraschenden Abreise hatte er von Zeit zu Zeit eine Postkarte an seine Eltern geschickt, mit dem Hinweis, sie sollten sich keine Sorgen machen. Er nähme sich lediglich eine Auszeit, um über seine Zukunft nachzudenken. Das war alles. Nicht einmal telefonisch war er zu erreichen, wie die Patrona beklagt hatte. Offensichtlich hatte er seine Handynummer geändert und wollte nicht erreichbar sein.
Das lag nun alles ein Jahr zurück. Ein erlebnisreiches Jahr voller Höhen und Tiefen. Ein Jahr, in dem Lorenzo und Giulia sich auf einer romantischen Hochzeitszeremonie das Ja-Wort gegeben hatten und für zwei Wochen in die Toscana abgetaucht waren. Und es war das Jahr, in dem Giulia ihre gemeinsame Tochter zur Welt gebracht hatte, wie Lorenzo immer wieder gerne betonte. Ob sie genetisch analysiert nun wirklich seine oder doch eher die Tochter seines Zwillingsbruders war, war inzwischen ohne Bedeutung. Jetzt war sie seine Tochter, die er von ganzem Herzen liebte. Darüber hinaus war es auch das Jahr, in welchem Lorenzo seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert hatte. Der erste Geburtstag in seinem Leben, den er ohne seinen Bruder verbrachte.
Nur selten dachte Giulia noch daran zurück, wie die beiden Männer sie mit ihrer erotischen Ausstrahlung zu einem fortwährenden Spiel aus Schmerz und Verlangen verführt hatten. Naiv hatte sie sich ihren Wünschen unterworfen und eine Form der Lust kennengelernt, die ihr bis dahin vollkommen unbekannt gewesen war.
Dann war von einem Tag auf den anderen alles anders geworden, ganz anders. Lorenzo sorgte sich aufrichtig darum, ob es ihr auch wirklich gut ging. Seit Beginn ihrer Schwangerschaft hatten sie sehr zärtlichen Sex miteinander gehabt. Lorenzo zeigte seine ganze Einfühlsamkeit, eine Seite, die sie bis dahin von ihm nicht kennengelernt hatte. Aufregende und auch ein wenig anstrengende Lustspiele gehörten der Vergangenheit an. Nichts sollte das gesunde Heranwachsen des Kindes in ihrem Bauch beinträchtigen. Gleichwohl hatte Lorenzo in den letzten Wochen keinen Hehl daraus gemacht, dass er sich darauf freue, ihr bald einmal bei einem erotischen Spanking den Hintern zu versohlen. Und was sie selbst betraf, lösten seine Worte in ihrem Schoß ein erwartungsvolles Prickeln aus.
Nein, daran wollte sie jetzt nicht denken. Was dies betraf, wurde Giulia nämlich auch von zwiespältigen Gefühlen gequält. Einerseits hatten sie diese Spiele heiß gemacht und ihr Verlangen nach mehr geschürt. Sie fürchtete sich auch nicht vor Lorenzo, denn er würde sie gewiss nicht überfordern. Da vertraute sie ihm blindlings. Andererseits saß die Angst tief, die Federico ihr bei jedem Spiel eingejagt hatte, indem er geschickt verbarg, wo die ernsthafte Bestrafung für ihre durch Schusseligkeit begangenen Fehler aufhörte und wo das erotische Spiel begann. Sie war ein Opfer seiner geschickten Erpressungen und seiner unwiderstehlichen Dominanz gewesen.
»Und, wie ist sie? Wen hat Federico geheiratet?«
»Keine Ahnung.«
»Aber dein Vater muss doch etwas gesagt haben! Ist sie intelligent, hübsch oder verrucht?«
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