Ihr Herz hämmerte erwartungsvoll, als sie in die S-Bahn einstieg. Was für ein Glück. Er war da und der Platz ihm gegenüber war noch frei.
»Guten Morgen, mögen Sie eine Erdbeere? Ganz frisch und lecker«, fragte sie, kaum dass sie sich gesetzt hatte und hielt ihm die Box hin. Ihr Magen zog sich ängstlich zusammen, wie er reagieren würde.
»Oh, danke. Das ist sehr nett von Ihnen«, erwiderte der Mann überrascht und griff lächelnd hinein. Puh, sie hatte alles richtig gemacht. Sie beobachtete ihn dabei, wie er von der Erdbeere abbiss, genussvoll den Bissen im Mund hin und her schob – am liebsten hätte sie ihm mit ihrer eigenen Zunge dabei geholfen. Das restliche Stück saugte er beinahe zwischen seinen Lippen ein, als wäre es eine. ..
Du meine Güte, hoffentlich sieht er mir nicht an, was ich gerade denke!, rief sie sich erschrocken zur Ordnung.
Später erinnerte Ilona sich nicht mehr an jedes einzelne Wort, das sie von da an gewechselt hatten. Aber an seinen freundlichen Blick und die feinen Züge seiner Lippen, wenn Marius sprach. Marius Alexander Böhm. Marius, erklärte er, hätten ihn seine Eltern nach Marius Müller-Westernhagen benannt, dessen Musik seine Mutter während der Schwangerschaft bevorzugt gehört habe. Alexander ganz altmodisch nach seinem Vater und dessen Vater.
Ilona erinnerte sich noch daran, dass sie ihn auf Musik angesprochen hatte, und was er jeden Tag in der Bahn übe. Es handelte sich nicht nur um klassische Musikstücke, wie sie vermutet hatte, denn er beschäftigte sich auch mit Jazz, Musicals, und sogar mit Rock’n’Roll. Als eines der jüngsten Mitglieder des örtlichen Philharmonieorchesters.
Ilona war beeindruckt.
Zwei Stationen bevor sie aussteigen musste, fragte er: »Wollen wir uns mal treffen? Ich meine, außerhalb der S-Bahn?«
»Ja gerne. Ihr gebt nicht zufällig demnächst ein Konzert?« Dumme Kuh, er meint das bestimmt nicht so! Manchmal sprach sie Sachen aus, die unwichtig oder einfach nur daneben waren. Wenn sie verlegen war und ihr Mund sprach ohne den Kopf einzubeziehen.
Er lachte. »Auch. Wir geben ständig Konzerte. Aber das heißt ja nicht, dass ich dir nicht persönlich vorspielen könnte. Ganz exklusiv.« Um Zustimmung heischend zwinkerte er ihr zu.
Hitze stieg ihr in die Wangen. Was meinte er mit exklusiv? Natürlich nur die Musik, was glaubst du denn? Bestimmt war er virtuos, nicht nur weil er ständig übte und einem bedeutenden Orchester angehörte. Nein, wer solche feingliedrigen langen Finger wie er hatte, der musste einfach sein künstlerisches Metier beherrschen. Ilona konnte sich an diesen schlanken langen Händen nicht sattsehen. Ob die wohl auch sensibel streicheln konnten? Ihr wurde noch heißer.
»Was hältst du von, sagen wir, morgen Nachmittag um drei Uhr? Bei mir?«
Bei ihm zuhause? Aber klar, er wollte ihr vorspielen, also hatte er bestimmt ein Klavier zuhause stehen. Dazu konnten sie sich nicht in einem Café treffen. Sie schluckte. Wieso sollte er an etwas anderes denken. In der S-Bahn hatte er ja auch nur seine Musik im Kopf. Vielleicht war er sogar ein musikalisches Genie, am Ende war sein Name für Fans längst Programm, und sie ahnte davon nicht einmal etwas.
Nachdem sie noch Adresse und Telefonnummer ausgetauscht hatten, machte Ilona sich auf den Weg zur Arbeit. Am nächsten Vormittag war einkaufen angesagt. Unter der Woche besorgte sie nur das Notwendigste wie Obst oder Brot. Alles andere erledigte sie am Samstag. Allerdings schweiften Ilonas Gedanken einige Male ab. Bestimmt hatte sie etwas vergessen. Ihre Aufregung stieg mit jeder Stunde.
Der Wohnungsputz musste heute warten. Lieber widmete Ilona sich um die Mittagszeit ihrer eigenen Pflege im Bad. Sie genoss es normalerweise in der Wanne zu liegen, ein Glas Orangensaft und ein Buch zur Hand, leise Musik aus dem Badradio. Aber heute fand sie nicht die nötige Gelassenheit. Zu gespannt war sie auf das Treffen mit ihrer neuen Bekanntschaft.
Sorgfältig, aber dennoch dezent geschminkt und in einem leichten Sommerkleid machte sie sich auf den Weg.
Die Wohngegend gehörte zu den besseren Lagen der Stadt. Altgewachsene, gut instand gehaltene und behutsam modernisierte Gebäude prägten das Bild. Kleinere, in die Wohnblocks integrierte Geschäfte hatten sich bislang halten können, anstelle großer Supermarktketten, für die ohnedies kein Platz war. Nur der Mietspiegel war für Ilonas Geschmack ein wenig zu hoch, sonst hätte sie sich auf eine der Wartelisten eintragen lassen, die es mittlerweile für viele Häuser gab. Zog jemand aus, war die Wohnung am nächsten Tag schon wieder belegt.
Schmale, hohe Sprossenfenster kennzeichneten das Haus als Altbau mit höheren Decken. Ilona musste sich fest gegen die hohe Eingangstür stemmen, um sie aufzudrücken. Ein Durchgang unter dem Gebäude führte in den Hinterhof und zum Rückgebäude. Über eine seitliche Steintreppe gelangte Ilona zu den beiden Wohnungen im Hochparterre.
Es dauerte einen Moment, bis auf Ilonas Klingeln Schritte zu hören waren. Dann stand Marius vor ihr, leger mit einem gestreiften Polohemd und Jeans bekleidet und reichte ihr die Hand.
»Hallo, schön dass du da bist. Hast du gleich hergefunden?«
»Ja danke, kein Problem. Klasse Wohngegend«, erwiderte Ilona und reichte Marius eine Flasche Prosecco. »Ich hoffe, du trinkst sowas?«
»Na klar«, grinste er. »Ich leg sie mal schnell kalt, bin gleich wieder da.«
»Wow!«, entfuhr es Ilona beim Betreten des Wohnzimmers. »Wie bist du denn an diese geile Wohnung gekommen?«
Marius erschien hinter ihr und zuckte mit den Schultern. »Vitamin B.«
Ilona zog eine Augenbraue hoch, während sie ihn über die Schulter hinweg anschaute, und er lachte. »Die Wohnung hat meiner Großtante gehört und die hat sie mir samt ihrem Flügel vermacht, als sie vor ein paar Jahren zu meinem Onkel ins Haus gezogen ist. Wegen versorgt sein und so.«
Ilona nickte und blickte sich um. Wahnsinn. Zum einen war das Wohnzimmer doppelt so groß wie ihr eigenes, mit einem gepflegten alten Parkett ausgelegt, insgesamt sehr klar und übersichtlich gestaltet, denn die Möbel waren zu den Wänden hin aufgeräumt und auf das Notwendigste beschränkt. Zum anderen wurde es von dem schwarz glänzenden Flügel dominiert, der mitten im Raum stand. Wie riesig so ein Flügel war! Beeindruckend. Wie man den wohl einst in die Wohnung bekommen hatte? Ihr Kopfkino schickte ihr ein Bild, wie das Zimmer um den Flügel herum gebaut wurde und sie musste an sich halten, nicht zu kichern.
Die linke Zimmerwand bestand fast durchgängig aus gut gefüllten Bücherregalen, darunter viele mit alten Ledereinbänden, die sicherlich auch von besagter Großtante stammten.
Die rechte Wand wirkte hingegen fast kahl. Dort gab es nur ein altes, dunkelgrün bezogenes Sofa mit geschwungenen Armlehnen. Legte Marius denn gar keinen Wert auf eigene Möbel? Auch wenn alles gut erhalten und stilvoll war – wo blieb sein eigener Geschmack? Oder war dies auch seiner? Sie würde es irgendwann herausfinden, im Moment war dies nebensächlich. Auf einem kleinen Beistelltisch am Sofa standen zwei Gläser und eine Karaffe mit offenbar frisch gepresstem Saft bereit. Wie aufmerksam. Offenbar war ihm aufgefallen, dass Ilona morgens immer Obst für den Arbeitstag dabei hatte.
Ansonsten war der Raum schmucklos. An den pastellgelb gestrichenen Wänden hing kein einziges Bild und keine Uhr. Auch die fünf vergleichsweise kleinen Fenster mussten ohne Gardinen oder Blumen davor auskommen. Als Sichtschutz gab es lediglich weiße halbtransparente Schiebegardinen, das einzige moderne Accessoire. Durch die Höhe wirkte der Raum noch größer. Von der Mitte hing eine Lampe mit schlichtem weißem Schirm herab, deren Höhe sich durch Ziehen variieren ließ.
»Ich habe noch nie bei jemandem zuhause so viele Bücher gesehen. Hast du die einfach nur übernommen oder auch gelesen?«
Читать дальше