Der »schlechten Mietpartie« klangen diese Worte wie Musik, und nach fünf Minuten schon war Pfäffling mit dem freundlichen Hausherrn unterwegs in die Frühlingsstraße und ließ sich von der Hausfrau mit der christlichen Liebhaberei, Gutes zu tun, die sonnige Wohnung zeigen und ohne Schriftstück, mit freundlichem Handschlag, wurde der Mietvertrag zu billigem Preis abgeschlossen. Fröhlichen Herzens ging unser Musiklehrer von der Frühlingsstraße in die Hintere Katzengasse, freute sich, als er schon von ferne den Seifengeruch in die Nase bekam, und teilte dem Seifensieder mit, dass er sich zu einer anderen Wohnung entschlossen habe. Dann vorbei an der Buchhandlung, wo er zum zweitenmal die Karte vom Fichtelgebirge verlangte, und nun heim zur begeisterten Schilderung der künftigen Wohnung in der Frühlingsstraße.
Die ganze Familie teilte seine Freude; nur der Frieder hörte zufällig nichts davon, weil er eben mit seiner Harmonika im Hof war, und niemand dachte daran, dass er die Neuigkeit nicht erfahren hatte. Er wunderte sich im stillen, als beim Mittagstisch alle so vergnügt vom nahen Umzug sprachen und sogar sagten, sie bekämen es viel schöner als jetzt; denn er dachte, es handle sich noch um die Hintere Katzengasse. »Mir gefällt's besser da,« sagte er, »weil wir doch einen Hof haben.« »Der elende Hof voll Wäschepfosten,« sagte einer der Brüder, »da will ich doch lieber einen Holzplatz.«
»Schau, schau, dem Frieder allein ist die neue Wohnung nicht gut genug, der will eben in die Kaiserstraße,« sagte der Vater neckend zu ihm, und auch die andern lachten. Es wusste niemand, dass man ihm eigentlich die neue Wohnung verdankte, auch er selbst nicht, und so schwieg Frieder. Er fand es zwar wunderlich, dass man heute so zufrieden sein sollte mit dem Tausch, aber ihm kam ja oft etwas sonderbar vor, was die Großen sagten, und er fragte nie viel, sie hatten immer keine Lust, ihn aufzuklären.
So kam es, dass Frieder bei der Meinung blieb, man habe in der Hintern Katzengasse eingemietet.
»Wenn der Umzug doch sein muss, dann so bald wie möglich,« sagte Pfäffling, »noch vor meiner Reise,« und mit großem Eifer wurden alle Vorbereitungen getroffen. Manche Bekannte boten ihre Hilfe an, und viele luden die Kinder für den Umzugstag zu Tisch, so dass es eine ganz schwierige Beratung gab, was man annehmen konnte und ablehnen musste. Die Eltern hatten viel zu tun; sie überließen es den Kindern, wo und wie jedes zu seinem Mittagstisch gelangen würde. So fanden die großen Jungen glücklich heraus, dass Brauns auf zwölf Uhr und Schwarzens auf ein Uhr geladen hatten, das konnten sie beides vereinigen, und sie freuten sich königlich auf das doppelte Mittagessen.
Der Tag des Umzugs kam. Gegen Mittag fuhr der vollbeladene Wagen ab, die Eltern folgten ihm in die neue Wohnung, während die Kinder gleich von ihren Schulen aus zu den Familien, die sie geladen hatten, gegangen waren und sich's da schmecken ließen. Nur unser Frieder hatte nicht recht erfaßt, wie das alles eingerichtet war und wo er zu Mittag essen sollte. Er wollte die Mutter noch einmal fragen und ging wie gewöhnlich von der Schule aus heim, in die alte Wohnung. Alle Türen standen weit offen. Betroffen blieb Frieder unter der Türe der verlassenen Wohnung stehen. Wo war denn alles? Er ging von einem Zimmer ins andere, Papier und Stroh lagen auf dem Fußboden zerstreut. Da, im Winkel, mitten unter dem Staub, sah er eine von Elschens Kugeln, die schöne, rote, die hob er auf und schob sie in seine Tasche. Dann ging er durch all die leeren Räume, seine Schritte hallten, aber sonst war alles still. Ihm wurde ganz unheimlich zumute, Tränen kamen ihm in die Augen, als er sich so verlassen fühlte. Ja, sie waren alle ausgezogen und hatten ihn vergessen. Jetzt kamen Schritte die Treppe herauf, der Hausherr war's und eine Scheuerfrau mit Besen und Wassereimer.
»Bist du noch da, Frieder?« fragte er. »Deine Leute sind schon in der neuen Wohnung, mache nur, dass du auch hinkommst, sonst wirst du hinausgekehrt.« Da ging Frieder die Treppe hinunter: er wusste jetzt, was er zu tun hatte, er musste in die neue Wohnung gehen. Also in die Hintere Katzengasse Nr. 13. Wo diese lag, wusste er ungefähr; hinter dem Markt hatte er sagen hören, und auf dem Markt war er schon oft gewesen. Er machte sich auf den Weg. Der war weit und heiß: der kleine Fußgänger mit dem Schulranzen kam langsam vorwärts und dachte dabei, dass er zum Mittagessen bei Bekannten eingeladen sei, wenn er nur gewusst hätte, wo? Endlich gelangte er doch auf den Markt und sah sich um. Rechts, links, überall gingen Straßen und Gassen ab, welche aber war die richtige? Zweifelnd kam er bis mitten auf den Platz, da trieben sich ein paar Kinder herum. An die wandte er sich. Ein Mädchen wies ihm den Weg. »Dort,« sagte sie, »wo der Seifenladen ist, da ist Nr. 13.«
Der Seifensieder stand unter der Ladentüre, und als er sah, dass der kleine ABC-Schütz mit dem Ränzchen auf dem Rücken unschlüssig vor dem Hause stehen blieb, fragte er: »Wen suchst du denn, Kleiner?«
»Ich möchte in unsere neue Wohnung,« sagte Frieder. »Wie heißt du denn?« »Frieder Pfäffling.« »Pfäffling? Pfäffling? Gehörst du dem Musiklehrer? Ja? Der hat ja hereinziehen wollen, hat sich aber dann anders besonnen. Bist du sein Bub und weißt das nicht?«
»Ich weiß gar nichts,« sagte Frieder und sah recht jämmerlich darein.
»Geh nur wieder in deine alte Wohnung,« sagte der Mann, »und frage dort, wo du hin sollst, dort sagt man dir's schon. So etwas ist mir aber noch nicht vorgekommen, dass man auszieht und sagt den Kindern nicht einmal wohin!«
Dem Frieder kamen trübe Gedanken, während er die Hintere Katzengasse wieder hinaufging nach dem Markt. Seine Eltern waren also in eine andere Wohnung gezogen und ihm hatte man nichts davon gesagt, weil man ihn nicht brauchen konnte. Der neue Hausherr hatte gewiß nur sechs Kinder nehmen wollen: er war der siebente, er war zuviel. Das kam ihm alles ganz natürlich vor, aber traurig war es. Und jetzt war er so hungrig. Für heute war er wenigstens noch zum Mittagessen eingeladen. Vielleicht bei Brauns? Dort wollte er es einmal versuchen. Den Weg dahin konnte er freilich nur von zu Hause oder von der Schule aus finden. So ging er bis zu seinem Schulhaus. Dort traf er einen seiner Schulkameraden, der schon wieder in die Nachmittagsschule ging und höchlich erstaunt war, dass Frieder erst zum Essen gehen wollte. Auch ein anderer Kamerad, der kleine Meinert, kam schon des Weges. »Du, Meinert,« rief ihm der erste Kamerad zu, »der Pfäffling will erst zum Essen gehen.«
»O, der kommt viel zu spät!«
»Gelt, ich sag's auch, der kommt zu spät.«
So eingeschüchtert wagte sich »der Pfäffling« auch nicht mehr weg, sondern ging hinauf in das Schulzimmer, setzte sich todmüde auf seinen Platz in der Bank, ließ das heiße Köpflein hängen und schlief ein. Aus diesem Mittagsschlaf erwachte er erst, als gegen zwei Uhr die andern Kinder alle heraufstürmten und der Lehrer kam. Sehr gut bestand Frieder heute nicht in der Schule, und die zwei Stunden schienen ihm eine Ewigkeit.
Als sie endlich überstanden waren und er die Treppe herunterkam, ohne zu wissen, wohin er sich dann wenden solle, da rief plötzlich eine Stimme: »Frieder!« Er sah auf und da stand sein Vater vor ihm und sagte freundlich: »So Frieder, ich habe auf dich gewartet, ich will dich abholen in die neue Wohnung, die Mutter hat Angst gehabt, dass du sie nicht findest.«
Ei, wie da der kleine Frieder verklärt zu seinem Vater aufsah, wie er sich dicht an ihn drängte und mit ihm ging! Und wie ihm dann auf einmal die Tränen aus den Augen schossen und all der Jammer im Durcheinander herauskam: Kein Mittagessen – die alte leere Wohnung – die Hintere Katzengasse und die Angst, dass man nur noch sechs Kinder haben wolle! Vater Pfäffling drückte fest die kleine Hand, die in der seinigen ruhte, und sagte: »Frieder, wo wir sind, da gehörst du auch hin, und in der Frühlingsstraße Nr. 20 wird auch für unser liebes Dummerle der Tisch gedeckt.«
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