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»An Wohnungen fehlt's wenigstens nicht,« sagte Herr Pfäffling, als er am nächsten Tag den Anzeiger mit heimbrachte, in dem ganze Reihen Wohnungen zur Miete angeboten waren. Und er machte sich auf den Weg, um solche anzusehen, die ihm passend erschienen. In der Langenstraße waren zwei ausgeschrieben. Die erste war zu teuer, die zweite noch viel teurer. Unser Musiklehrer erschrak ordentlich. »Wenn ich so viel Miete zahlen müsste, dann bliebe uns kein Geld mehr übrig fürs tägliche Brot,« sagte er und wanderte weiter hinaus, der Vorstadt zu, eine endlose Straße entlang, bis er Nr. 80 erreicht hatte, wo eine Wohnung frei war. Ja, da war es nicht mehr so schrecklich teuer, da konnte man sich doch auf Unterhandlung einlassen. Der Hausherr führte ihn durch die Zimmer. Ein wenig klein waren diese. Herr Pfäffling stellte im Geist die Bettstellen und sprach so halblaut vor sich hin: »Hier mein Bett und das von meiner Frau, hier Karl, Wilhelm und Otto, hier Marianne, da Frieder –«
»Ja, erlauben Sie einmal,« unterbrach ihn jetzt der Hausherr, »wieviel haben Sie eigentlich Kinder?«
»Wir haben sieben.«
»Sieben! Bei sieben tut's mir leid, dass ich Ihnen sagen muss, sieben nehme ich nicht in meine Wohnung. Ich habe meist so Parteien mit einem Kind, auch zwei und drei lasse ich mir gefallen, aber vier sind mir schon zuviel, und gar sieben, nein, da ist mir's doch zu leid um meine neuen Fußböden, lieber lasse ich die Wohnung leerstehen.« »So,« entgegnete Herr Pfäffling, »dann will ich auch nicht länger auf Ihren kostbaren Fußböden herumtreten,« und ärgerlich verließ er das Haus.
Nun hinaus in die Sonnenstraße, dort gibt es auch einfache Häuser. Ein großer, weißer Zettel am Fenster des dritten Stocks zeigte schon von weitem, dass hier etwas zu hoffen war. Der Werkmeister Scholl war der Besitzer. Er stand unter der Haustüre und zeigte bereitwillig die Wohnung. Diesmal überlegte Pfäffling nur ganz in der Stille, wie sich die Betten stellen ließen. Von seinen sieben Kindern ließ er nichts verlauten. Die Wohnung gefiel ihm, der Preis war nicht zu hoch, jetzt nur gleich fest mieten. Dem Werkmeister war es auch recht, er holte einen Mietvertrag zum Unterschreiben, und während er Tinte und Feder bereitlegte, fragte er nach dem Namen seines Mieters.
»Pfäffling.«
»Und der Stand, wenn ich bitten darf, der Beruf?«
»Musiklehrer.«
»So, das ist freilich sozusagen ein lebhafter Beruf.«
»Stört in unserem Fall nicht viel,« sagte Herr Pfäffling, »ich gebe viel Unterricht außer Haus.«
»Das ist gut, denn ich muss Ihnen gleich sagen, im untern Stock wohnt eine Dame, eine feine Dame, die leidet an Kopfweh und braucht Ruhe. Aber wenn die Stunden alle außer Haus sind, ist's schon gut.«
»Alle habe ich nicht gesagt, aber die meisten.«
»Und Ihre eigene Familie ist doch nicht etwa sehr groß?«
»Sehr groß?« sagte Pfäffling, »was heißt das, es gibt noch viel größere, und übrigens kommt alles darauf an, ob Kinder streng gehalten werden; die meinigen dürfen keinen Unfug treiben. Schreiben wir nur den Vertrag, ich habe nicht viel Zeit.«
Aber der Hausherr war hartnäckig. »Wissen möchte ich doch, wieviel Personen ins Haus kommen und was für welche,« sagte er, »wieviel Kinder, bitte? Sind's Knaben oder Mädchen?« Nun half nichts mehr. Herr Pfäffling musste bekennen: »Vier Buben sind's und dann noch so ein paar kleine Mädels, die merkt man nicht viel.«
Der Werkmeister legte die Feder wieder weg. »Es geht nicht,« sagte er, »es ist unmöglich, Musikstunden sind schon schlimm, dazu aber noch ein halbes Dutzend Kinder, nein, was zuviel ist, ist zu viel!«
»Aber Mensch,« rief Pfäffling außer sich, »wir müssen doch auch wohnen, was sollen wir denn tun, wenn uns niemand hereinlässt!«
In diesem Augenblick erschienen zwei ältere Damen unter der Türe, sie wollten die Wohnung besehen. Der Hausherr begrüßte sie höflich, für unseren armen Musiklehrer hatte er keinen Blick mehr, der konnte gehen.
Am Torweg war auch eine Wohnung frei. Die Hausfrau hängte eben im Vorgärtchen Wäsche auf; als sie hörte, was Pfäfflings Begehr war, holte sie ihren großen Schlüsselbund und schickte sich an, mit ihm hinaufzusteigen in den vierten Stock. Herr Pfäffling dachte bei sich: »Eigentlich ist's ganz unnötig, dass ich die Wohnung ansehe, ich nehme sie ja doch, mag sie sein wie sie will, aber ob die Frau uns nimmt, das ist die Frage!« Er sagte aber nichts und ging voraus, die Treppe zum ersten Stock hinauf. Langsam folgte ihm die Hausfrau, die wohlbeleibt war und schwer atmete. Pfäffling wurde ein wenig ungeduldig, er war schon so lange unterwegs und ihm war es ganz gleichgültig, wie die Zimmer aussahen. Auf dem ersten Treppenabsatz musste die Frau ein wenig ausschnaufen. Jetzt konnte er sich nicht mehr zurückhalten. »Ich will Ihnen lieber gleich mitteilen, dass ich Musiklehrer bin,« sagte er, »wenn Sie also keinen wollen, dann verlieren wir weiter keine Zeit.«
Sie stutzte einen Augenblick, dann sagte sie gnädig: »Steigen Sie nur weiter hinauf.« Im Nu war Pfäffling die zweite Treppe droben, die Hausfrau keuchte nach. Auf dem zweiten Treppenabsatz wieder Pause zum Atemholen und Pfäffling: »Ich will Ihnen nur gleich sagen, dass wir sieben Kinder haben.«
»Um Himmels willen,« rief die Frau, »haben Sie denn für jedes Stockwerk so eine Hiobspost? Bis wir den vierten Stock hinaufkommen, spielen Sie die Regimentstrommel und haben noch ein Dutzend Buben in der Kost! Ich tu' aber nicht mehr mit!« Und die schwerfällige Frau machte Kehrt, hörte gar nicht mehr auf die guten Worte, die ihr Pfäffling gab, und brummte noch vor sich hin: »Gott bewahre mich vor so einer Gesellschaft!«
Unser Musiklehrer rannte zum Haus hinaus und spornstreichs heim – für heute hatte er's satt!
Als er bei Tisch erzählte, wie es ihm ergangen war, fühlten sich die Kinder ordentlich beschämt, dass die Eltern ihretwegen nirgends aufgenommen wurden, und nach Tisch, wo sie sonst alle im Hof herumtollten, standen sie ganz bescheiden in einem Eckchen zusammen und besprachen die Wohnungsnot. »Wir Großen können nichts dafür, dass wir so viele sind,« sagte der Älteste, »wir drei waren schon immer da.«
»Und wir zwei auch,« sagte eine der Zwillingsschwestern, »aber der Frieder und Elschen sind nachher dazugekommen.« »Ja, die sind schuld, dass wir so viele sind.«
»Ach, das Elschen macht ja nichts aus, das ist so klein und still, das bemerkt kein Hausherr. Aber der Frieder, ja, der Frieder mit seiner ewigen Ziehharmonika, wenn der nicht wäre, dann wären wir bloß sechs.« Sie sahen alle auf den Frieder, der stand da wie ein kleiner Sünder und fühlte sich schuld an der ganzen Wohnungsnot. Und als seine Geschwister längst schon die Sorge abgeschüttelt hatten und lustig im Hofe spielten, war er noch still und nachdenklich.
Frieder stand immer ein wenig allein unter den Geschwistern. Die drei großen Brüder sahen auf ihn herab und nannten ihn das Dummerle. Er war eigentlich nicht dumm, aber weil er immer Harmonika spielte, hörte und sah er manchmal nicht, was um ihn vorging, und stellte oft wunderliche Fragen. Die Zwillingsschwestern gingen immer miteinander und brauchten ihn nicht, so blieb nur das Elschen übrig, und mit dem konnte er noch nicht viel besprechen; aber er hatte es doch sehr lieb, schon weil es nicht auf ihn heruntersehen konnte, wie all die andern, sondern weil es sogar zu ihm hinaufblicken musste; er hatte es lieb, weil es nie Dummerle zu ihm sagte, denn es war noch kleiner und dummer als er.
Dies kleine Elschen wandte sich auch oft an ihn, denn Frieder hatte mehr Zeit und auch mehr Geduld als die größeren Geschwister, und wenn Elschen noch so oft des Tages eine ihrer fünf schönen Glaskugeln verlor, so suchte sie Frieder unverdrossen wieder zusammen. Die Kleine verstand noch nichts von der Wohnungsnot, aber Frieder war sehr davon bedrückt, und als er an diesem Nachmittag aus der Schule kam, fiel ihm ein, er wolle auch helfen Wohnung suchen. Sein Weg führte ihn durch die Kaiserstraße, das war die eleganteste Straße der Stadt. In dieser gab es ja prächtige Häuser, da mussten feine Wohnungen sein, wenn er nur so eine finden könnte!
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