Dem Sohn wurde ganz eigen zumute. Mit einmal fühlte er sich wie ein Freund zu Vater und Mutter herbeigezogen, und in dieser Abendstunde erfuhr er, was seine Eltern gegenwärtig freudig bewegte.
Als er sich aber eine Stunde später leise neben seine Brüder zu Bette legte, da besann er sich, ob irgend etwas auf der Welt ihn bewegen könnte, das Vertrauen der Eltern zu täuschen, und er fühlte, dass keine Lockung noch Drohung stark genug wäre, ihm das anvertraute Geheimnis zu entreißen.
In aller Stille reiste am folgenden Sonntag unser Musiklehrer nach Marstadt, um sich dort den Herren vorzustellen, die über die Ernennung des Direktors für die neu zu gründende Musikschule zu entscheiden hatten. Es kam noch ein anderer, jüngerer Mann aus Marstadt für die Stelle in Betracht, und nun musste sich's zeigen, ob Herr Pfäffling wirklich, wie sein Freund Kraußold meinte, die besseren Aussichten habe. Unterwegs nach der ihm unbekannten Stadt wurde Herr Pfäffling immer kleinmütiger. Warum sollten sie denn ihn, den Fremdling, wählen, statt dem Einheimischen? Sie konnten ja gar nicht wissen, wie eifrig er sich seinem neuen Beruf widmen wollte und wie ihm dabei all seine seitherigen Erfahrungen an der Musikschule zustatten kommen würden!
In Marstadt angekommen, machte er Besuche bei den Herren, die sein Freund Kraußold ihm nannte. War er bei dem ersten noch verzagt, so wuchs seine Zuversicht bei jedem weiteren Besuch, denn wie aus einem Munde lautete das Urteil über seinen Mitbewerber: »Zu jung, viel zu jung zum Direktor« Und einmal, als er in Begleitung seines Freundes über die Straße ging, sah er selbst den Jüngling, der sein Mitbewerber war, und von da an war er beruhigt; das war noch kein Mann für solch eine Stelle, der sollte nur noch zehn Jahre warten!
In froher Zuversicht konnte unser Musiklehrer die Heimreise antreten. Am Bahnhof von Marstadt bot ein Mädchen Blumen an. In seiner hoffnungsfreudigen Stimmung gestattete er sich einen bei ihm ganz unerhörten Luxus: Er kaufte eine Rose. Sein Freund Kraußold sah ihn groß an: »Zu was brauchst du so etwas?«
»Für die zukünftige Frau Direktor,« antwortete Herr Pfäffling fröhlich, und als sein Freund noch immer verwundert schien, setzte er ernst hinzu: »Weißt du, sie hat es schon manchmal recht schwer gehabt in unseren knappen Verhältnissen.«
Sie verabschiedeten sich und Kraußold versprach, am nächsten Donnerstag gleich nach Schluss der Sitzung ihm den Entscheid über die Besetzung der Stelle zu telegrafieren. Als bei seiner Heimkehr Herr Pfäffling seiner Frau die Rose reichte, wusste sie alles, auch ohne Worte: seine glückselige siegesgewisse Stimmung, seine Freude, dass er auch ihr ein schöneres Los bieten konnte, das alles erkannte sie an der unerhört verschwenderischen Gabe einer Rose im November!
Die Sache blieb nicht länger Geheimnis. Herr Pfäffling besprach sie mit seinem Direktor, in der Zeitung kam eine Notiz aus Marstadt über die geplante Musikschule und die zwei Bewerber um die Direktorenstelle. Auch die Kinder hörten nun davon, die Hausleute erfuhren es und Walburg wurde es ins Ohr gerufen.
Je näher der Donnerstag kam, um so mehr wuchs die Spannung auf den Entscheid. Am Vorabend lief noch ein Brief von Kraußold ein, der keinen Zweifel mehr darüber ließ, dass Pfäffling einstimmig gewählt würde.
Gegen Mittag konnte das Telegramm einlaufen. Es war noch nicht da, als Herr Pfäffling aus der Musikschule heimkam. So setzten sie sich alle zu Tisch wie gewöhnlich, aber die Kinder stritten sich darum, wer aufmachen dürfte, wenn der Telegrafenbote klingeln würde. Die Mutter hatte das aufmerksame Ohr einer Hausfrau, sie legte den Löffel aus der Hand und sagte: »Er kommt.« Einen Augenblick später klingelte es, und von den dreien, die hinaus gerannt waren, brachte Wilhelm das Telegramm dem Vater, der rasch den Umschlag zerriss. Es war ein langes, ein bedenklich langes Telegramm. Es besagte, dass noch in der letzten Stunde der Beschluss, im nächsten Jahre schon eine Musikschule zu gründen, umgestoßen worden sei und man eines günstigen Bauplatzes wegen noch ein paar Jahre warten wolle!
Herrn Pfäffling war zumute, wie wenn man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hätte, als er las, dass die ganze Musikschule, die er dirigieren wollte, wie ein Luftschloss zusammenbrach.
O, diese traurige Tischgesellschaft! Wie bestürzt sahen die Eltern aus, wie starrten die Buben das unheilvolle Telegramm an, wie flossen den Mädchen die Tränen aus den Augen, wie schaute Elschen so ratlos von einem zum andern, weil sie gar nichts von dem allen verstand!
Frieder, der neben der Mutter saß, wandte sich halblaut an sie: »Es wäre viel freundlicher gewesen, wenn sie das mit der Musikschule schon vorher ausgemacht hätten, und das mit dem Vater erst nachher.«
»O Frieder,« rief der Vater und fuhr so lebhaft vom Stuhl auf, dass alle erschraken, »wenn die Marstadter nur so klug wären wie du, aber die sind so – ich will gar nicht sagen wie, das kann man überhaupt gar nicht sagen, dafür gibt es keinen Ausdruck!«
Frau Pfäffling nahm das Telegramm noch einmal zur Hand: »Ein paar Jahre wollen sie warten,« sagte sie, »vielleicht nur zwei Jahre, dann wäre es ja nicht so sehr ferne gerückt!«
»Es können auch fünf daraus werden und zehn,« entgegnete Herr Pfäffling, »inzwischen kommen die, die jetzt noch zu jung waren, ins richtige Alter und ich komme darüber hinaus. Nein, nein, da ist nichts mehr zu hoffen, Direktor bin ich gewesen .«
Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und man hörte ihn über den Gang in das Musikzimmer gehen. Die Kinder aßen, was auf ihren Tellern fast erkaltet war. »Ich wollte, Herr Kraußold wäre gar nie in unser Haus gekommen!« sagte Anne. Da stimmten alle ein und der ganze Zorn entlud sich über ihn, bis die Mutter wehrte: »Herr Kraußold hat es nur gut gemeint. Ihr Kinder habt überdies allen Grund, froh zu sein, dass wir hier bleiben. Ihr bekommt es nirgends mehr so gut wie hier außen in der Frühlingsstraße. Für euch wäre es kein Gewinn gewesen.«
»Aber für den Vater und für dich,« sagte Karl, und er dachte an den schönen Abend, an dem die Eltern ihm die frohe Zukunftsaussicht anvertraut hatten. »Ja,« sagte die Mutter, »aber der Vater und ich kommen darüber weg. In der ersten Viertelstunde ist man wohl betroffen, aber dann stemmt man sich gegen das Ungemach und sagt sich: dies gehört auch zu den Dingen, die uns zum besten dienen müssen, wie alles, was Gott schickt, und dann besinnt man sich: wie muss ich's anpacken, damit es mir zum besten dient?« Die Mutter versank in Gedanken.
»Seid ihr satt, Kinder?« fragte sie nach einer kleinen Weile. »Dann deckt den Tisch ab, ich will ein wenig zum Vater hinübergehen. Nehmt auch die Rose mit hinaus, die Blätter fallen ab.«
Im Eckzimmer wanderte Herr Pfäffling auf und ab und wartete auf seine Frau, denn er wusste ganz gewiss, dass sie zu ihm kommen würde. Sie hatten schon manches Schwere miteinander getragen, und nun musste auch diese Enttäuschung gemeinsam durchgekämpft werden.
Als Frau Pfäffling eintrat, hatte ihr Mann ein Blatt Papier in der Hand und reichte es ihr mit schmerzlichem Lächeln: »Da sieh, gestern abend war ich so zuversichtlich, da habe ich für dich ein kleines Lied komponiert, das wollte ich dir heute abend mit der Guitarre singen. Die Kinder hätten im Chor den Schlussreim mitsingen dürfen, auf den jeder Vers ausgeht:
»'Drum rufen wir mit frohem Sinn:
Es lebe die Direktorin!'
»Nun muss es heißen:
»'Schlag dir die Ehre aus dem Sinn
Du wirst niemals Direktorin.'«
»Nein, nein,« wehrte Frau Pfäffling, »du musst es anders umändern, es muss ausgedrückt sein, dass wir trotz allem einen frohen Sinn behalten.«
»Für den Gedanken finde ich jetzt noch keinen Reim,« sagte er trübselig, »ich brauche auch keinen, mit dem Lied kannst du Feuer machen.«
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