1 ...8 9 10 12 13 14 ...36 Aufmerksam sahen die jungen Pfäfflinge nach dem Turnplatz hinüber. Unter den Rekruten, die jetzt eben am Turnen waren und den Sprung über ein gespanntes Seil üben sollten, waren drei, die sich gar ungeschickt dazu anstellten. Der eine zeigte wenigstens Eifer, er nahm immer wieder einen Anlauf, um über die Schnur zu kommen und wenn es ihm fünfmal misslungen war, so kam er doch das sechste mal darüber und der Schweiß redlicher Anstrengung stand ihm auf der Stirn. Die beiden anderen Ungeschickten machten gleichgültige, störrische Gesichter und träge Bewegungen. Als die Abteilung zur Kaserne zurück kommandiert wurde, mussten sie nach exerzieren. Das war nun kein schöner Anblick. Dazu fing es an zu regnen, große wässerige Schneeflocken mischten sich darunter, und die kleinen Zuschauer entfernten sich im lebhaften Gespräch über die unbeholfenen Turner. So wollten sie sich einmal nicht anstellen. Sie wollten all diese Übungen schon vorher machen, gleich morgen sollte da, zwischen den Balken, ein Sprungseil gespannt werden. Sie kamen an Frieder vorbei; der hatte auch bemerkt, dass Schnee und Regen herunter fielen und kletterte von seinem Brettersitze. Nun besprachen sich die Brüder über ihn. Er würde vielleicht auch einmal so ein Ungeschickter. Welche Schande, wenn ein Pfäffling so schlecht auf dem Turnplatz bestünde. Es durfte nicht sein, dass er immer nur Harmonika spielte, sie wollten ihn auch springen lehren, er musste mittun, gleich morgen. Er sagte auch ja dazu, aber es war ihm ein wenig bedenklich und mit Recht: drei eifrige Unteroffiziere gegen einen ungeschickten Rekruten!
Als sie ans Haus kamen, fiel ihnen erst wieder der Gast ein, der droben die Gegend unsicher machte. War er vielleicht schon fort? Die Mädchen, die noch bei der Hausfrau waren, wurden gerufen und beschlossen, dass sie erkundigen sollten, wie es oben stünde. Marie wagte sich hinauf, erschien bald wieder an der Treppe und winkte den anderen, leise nachzukommen. Elschen folgte nur zaghaft den Geschwistern, sie stellte sich den Kinderfeind als eine Art Menschenfresser vor.
»Er ist im Wohnzimmer,« flüsterte Marie, »wir gehen in das Musikzimmer, da hört man uns nicht.«
Auf den Zehen schlich sich die ganze Kindergesellschaft in das Eckzimmer. Dort fühlten sie sich in Sicherheit. Nur war von allem, was sie gerne gehabt hätten, von Büchern und Heften oder Spielen hier nichts zu haben. So standen sie alle sieben herum, warteten und fingen an, in dem kühlen Zimmer zu frieren, denn sie waren naß und durchkältet. »Wir wollen miteinander ringen, dass es uns warm wird,« schlug Wilhelm vor und Otto ging darauf ein. Karl war auch dabei: »Ich nehme es mit der ganzen Marianne auf,« rief er, »kommt, du Marie gegen meine rechte Hand, du Anne gegen meine linke, Frieder, Elschen, stellt die Stühle aus dem Weg.« Sie taten es und dann machten sie es den großen Geschwistern nach. Das gab ein Gelächter und Gekreisch und aber auch einen großen Plumps, weil Otto und Wilhelm zu Boden fielen.
In diesem Augenblick ging die Türe auf; Herr Pfäffling hatte ahnungslos seinen Besuch aufgefordert, das Klavier zu probieren und so traten sie miteinander ins Musikzimmer. Nein, auch für einen Kinderfreund wäre dieser Knäuel sich balgender Knaben und ringender Mädchen kein schöner Anblick gewesen, und nun erst für den Kinder feind !
Er prallte ordentlich zurück. Elschen schrie beim Anblick des gefürchteten Fremden laut auf und ergriff eiligst durch den anderen Ausgang die Flucht, alle Geschwister ihr nach. Aber noch unter der Türe besann sich Karl, kehrte zurück, grüßte und sagte: »Entschuldige, Vater, wir wollten drüben nicht stören, deshalb sind wir alle hier gewesen,« dann stellte er rasch die Stühle an ihren Platz und rettete dadurch noch einigermaßen die Ehre der Pfäfflinge, die sich wohl noch nie so ungünstig präsentiert hatten, wie eben diesem Fremden gegenüber.
Eine kleine Weile darnach reiste der Gast ab, von Herrn Pfäffling zur Bahn geleitet. Die Kinder nahmen wieder Besitz von dem großen Tisch im Wohnzimmer und saßen bald in der gewohnten Weise an ihren Aufgaben, doch war ihnen allen bang, wie der Vater wohl die Sache aufgenommen habe und was er sagen würde bei seiner Rückkehr von der Bahn; die Mutter war ja nicht dabei gewesen, sie konnte es nicht wissen.
Nun kam der Vater heim. Eine merkwürdige Stille herrschte im Zimmer, als er über die Schwelle trat. Er blieb einen Augenblick stehen und betrachtete das friedliche Familienbild. Dann sagte er: »Da sitzen sie nun wie Musterkinder ganz brav bei der Mutter, sanft wie unschuldige Lämmlein, nicht wieder zu erkennen die wilde Horde von drüben!« Bei diesem Scherzenden Ton wurde ihnen allen leicht ums Herz, sie lachten, sprangen dem Vater entgegen und Elschen fragte: »Ist der Herr weit weggereist, Vater, und bleibt der jetzt schön da, wo er hin gehört?«
»Jawohl, du kannst beruhigt sein, er kommt nicht mehr. Und wenn er käme oder wenn ein anderer kommt,« setzte Herr Pfäffling hinzu, indem er sich an seine Frau wandte, »dann geben wir uns gar keine Mühe mehr, unser Hauswesen in stiller Vornehmheit zu zeigen und in künstliches Licht zu stellen, denn so ein künstliches Licht verlöscht doch plötzlich und dann ist die Dunkelheit um so größer.«
Ein paar Stunden später, als Elschen längst schlief, die Schwestern Gute Nacht gesagt hatten und Frieder mit Wilhelm und Otto im sogenannten Bubenzimmer ihre Betten aufsuchten, saß Karl noch allein mit den Eltern am Tisch. Seit seinem fünfzehnten Geburtstag hatte er dies Vorrecht. Es wurde allmählich still im Haus. Auch Walburg hatte Gute Nacht gewünscht; manchmal lag kein anderes Wort zwischen ihrem »Guten Morgen« und »Gute Nacht«.
Die drei, die nun noch am Tische saßen, waren ganz schweigsam und bewegten doch ungefähr denselben Gedanken.
Herr Pfäffling dachte: Wenn nur Karl auch zu Bett ginge, dass ich mit meiner Frau von Marstadt reden könnte. Die Kinder sollen ja noch nichts davon wissen. Er zog seine Taschenuhr – es war noch nicht spät. Dann ging er auf und ab, sah wieder nach der Uhr und wurde immer ruheloser.
Frau Pfäffling dachte: Meinem Mann ist es lästig, dass wir nicht allein sind, aber er möchte Karl doch nicht so früh zu Bett schicken. Nein, diese Unruhe! Und dagegen die Ruhe, mit der Karl in sein Buch schaut und nicht ahnt, dass er stört.
Darin täuschte sich aber Frau Pfäffling, denn Karl dachte: Der Vater schweigt und die Mutter schweigt. Wenn ich zur Türe hinausginge, würden sie reden, über Herrn Kraußold aus Marstadt, denn mit diesem hat es eine besondere Bewandtnis. Nun zieht der Vater zum dritten Mal in fünf Minuten seine Uhr. Er möchte mich fort haben und doch nicht fortschicken. Und die Mutter auch. Da ist's wohl angezeigt, dass ich freiwillig gehe. Er klappte das Buch zu, stand auf und sagte: »Gute Nacht, Vater, gute Nacht, Mutter, ich will jetzt auch gehen.«
»Gute Nacht, Karl.«
Sie waren überrascht, dass er so bald aufbrach. »Es ist Zufall,« sagte Herr Pfäffling. »Oder hat er gemerkt, dass er uns stört,« meinte die Mutter. »Woran sollte er das gemerkt haben? Wir haben nichts gesagt und er hat gelesen.«
»Dir kann man so etwas schon anmerken,« erwiderte Frau Pfäffling lächelnd.
»Das muss ich noch erfahren,« sagte Herr Pfäffling lebhaft und rief seinen Jungen noch einmal zurück: »Sage offen, warum du so bald zu Bett gehst?« Einen Augenblick zögerte Karl, dann erwiderte er schelmisch: »Weil du dreimal auf deine Uhr gesehen hast, Vater.«
»Also doch? So geh du immerhin zu Bett, Karl, es ist nett von dir, dass du Takt hast – übrigens, wenn du Takt hast, dann kannst du ebenso gut hier bleiben, dann wirst du auch nicht taktlos ausplaudern, was wir besprechen.« »Das meine ich auch,« sagte Frau Pfäffling, »er wird nun bald sechzehn Jahre. Komm, Großer, setze dich noch einmal zu uns.«
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