Er kehrte in Woodwards Zimmer zurück und wartete auf die Magd, die eine kalte Kompresse brachte. Matthew dankte ihr, entließ sie, und legte dem schlafenden Richter selbst das nasse Baumwolltuch auf das Gesicht und den Nacken, wo das Fieber am stärksten zu spüren war.
Dann ging Matthew nach unten. Mrs. Nettles schloss gerade die Fensterläden für die Nacht. Er bat um eine Kanne Tee und etwas Gebäck, und bekam kurz darauf ein Tablett mit beidem serviert. Er nützte die Gelegenheit, Mrs. Nettles zu fragen, was sie über den Rattenfänger wusste. Aber außer der Tatsache, dass Linch sich nicht oft unter Menschen begab und trotz seiner äußerst wichtigen Arbeit als ein Außenseiter galt, hatte sie nichts Neues zu erzählen. Matthew fragte auch ganz nebenbei, ob ihr jemals Spannungen zwischen Dr. Shields und Nicholas Paine aufgefallen waren, oder ob sie eine Ahnung hatte, was zwischen den beiden vorgefallen sein mochte.
Mrs. Nettles wusste von keinem Vorfall, war sich allerdings einer gewissen Kälte des Arztes gegenüber Mr. Paine bewusst. Im Gegensatz dazu, sagte sie, war Dr. Shields gegenüber Mr. Winston und Mr. Bidwell sehr herzlich. Mrs. Nettles fand es offensichtlich, dass der Arzt es vermied, mit Paine im selben Zimmer zu sein – nicht auf eine so dramatische Art und Weise, dass es jedem auffiel, aber ihrer Meinung nach verabscheute Dr. Shields den Mann.
»Ich danke Euch«, sagte Matthew. »Ach … eine Frage noch. Wer ist eigentlich zuerst in Fount Royal aufgetaucht? Mr. Paine oder der Arzt?«
»Mr. Paine«, antwortete sie. »Das war … oh, ich glaube, ein, zwei Monate, bevor Dr. Shields herzog.« Sie wusste, dass es für all diese Fragen einen guten Grund geben musste. »Hat es etwas mit Rachel Howarth zu tun?«
»Nein, das glaube ich nicht. Ich wollte nur wissen, ob ich mir da etwas eingebildet habe oder nicht.«
»Ich würde schwören, dass da mehr dahinter steckt!« Sie lächelte verschmitzt. »Ihr mögt keine losen Enden und Gedankenfaden, die ins Leere laufen, nicht wahr?«
»Ich könnte wohl Teppichknüpfer werden.«
»Ha!« Sie lachte bellend. »Ja, das könntet Ihr!« Dann verschwand ihr Lächeln und ihr Gesicht verfinsterte sich, bis wieder so grimmig wie üblich aussah. »Dann gibt es für Madam Howarth also keine Hoffnung mehr?«
»Die Hoffnung stirbt zuletzt«, sagte Matthew.
»Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, dass der Scheiterhaufen noch nicht brennt … und dass ich noch mehr lesen muss. Entschuldigt mich nun bitte. Gute Nacht.« Matthew nahm das Tablett mit Tee und Gebäck mit nach oben auf sein Zimmer, goss sich eine Tasse Tee ein und setzte sich neben das offene Fenster, auf dessen Fensterbrett er seine Laterne stellte. Zum dritten Mal nahm er die Zeugenprotokolle aus dem Holzkästchen und fing an, sie von vorn durchzulesen.
Inzwischen kannte er die Aussagen schon auswendig. Trotzdem hatte er das Gefühl – oder vielmehr die verzweifelte Hoffnung –, dass sich irgendwo in dem Dickicht der Worte ein Wegweiser finden ließ, der seine nächsten Schritte lenken konnte. Er trank seinen Tee und knabberte an dem Gebäck. Matthew hatte von Dr. Shields erfahren, dass Bidwell in Van Gundys Wirtshaus gegessen hatte. Der Arzt hatte Bidwell mit Winston und diversen anderen Männern in einer fröhlichen Runde anstoßen sehen.
Zum dritten Mal gelangte er ans Ende von Jeremiah Buckners Aussage und legte die Papiere beiseite, um sich die Augen zu reiben. Ihm war ebenfalls nach einem starken Getränk zumute, doch Alkohol würde nur seine Entschlossenheit schwächen und ihn Dinge übersehen lassen. Oh, ein Königreich für eine Nacht mit traumlosem Schlaf und ohne Gedanken an Rachel auf dem lodernden Scheiterhaufen!
Oder einfach nur eine Nacht, ohne an Rachel zu denken. Und sonst nichts.
Er erinnerte sich an die Worte des Richters: Ihr zu helfen. Die Wahrheit herauszufinden. Etwas Gutes zu tun. Wie du es auch nennst … Rachel Howarth ist dein Nachtvogel, Matthew. Vielleicht hatte der Richter recht – aber nicht in dem negativen Sinn, den er gemeint hatte.
Matthew schloss für einen Moment die Augen, um sie auszuruhen. Dann schlug er sie wieder auf, stärkte sich mit einer frischen Tasse Tee und las weiter. Er nahm sich nun die Aussagen von Elias Garrick vor; die Erinnerungen des Mannes an die Nacht, in der er aufgewacht war und – Moment, dachte er. Das war seltsam.
Erneut überflog er den Abschnitt, den er soeben durchgelesen hatte. Mir ging's die Nacht nicht so gut und ich bin aufgewacht und rausgegangen, um das zu erbrechen, von dem mir so schlecht geworden war. Still war's – alles war still, als ob die ganze Welt Angst hatte, Luft zu holen.
Matthew setzte sich aufrecht hin. Er zog die Laterne näher heran. Dann blätterte er durch den Stapel Papiere, bis er den Anfang von Jeremiah Buckners Aussage gefunden hatte.
Und dort stand es:
Patience und ich sind an dem Abend wie üblich zu Bett gegangen. Sie hat die Lampe ausgemacht. Dann … ich weiß nicht, wie lange danach … hab ich gehört, wie wer meinen Namen sagt. Ich hab die Augen aufgemacht. Alles war dunkel und still. Ich hab gewartet. Gehorcht. Still war's, als ob's auf der ganzen Welt kein anderes Geräusch als meinen Atem gab. Dann … hat wieder wer meinen Namen gesagt, und ich hab ans Fußende vom Bett geguckt. Und da hab ich sie gesehen.
Schnell suchte Matthew den Anfang von Violet Adams' Zeugenaussage über das Betreten des Hamilton-Hauses heraus. Sein Herz trommelte in seiner Brust, als er den Finger auf die entscheidende Zeile legte.
Es war still, wie wenn … nur ich am Atmen bin und es sonst kein Geräusch gäb .
Drei Zeugen.
Drei Aussagen.
Aber immer das gleiche Wort: still.
Und dann das mit dem Atmen – dass es das einzige Geräusch war. Wie konnte das ein Zufall sein? Ebenso der Ausdruck »auf der ganzen Welt«, den sowohl Buckner als auch Garrick benutzt hatten … es ergab doch keinerlei Sinn, dass beide Männer genau den gleichen Ausdruck benutzt hatten.
Es sei denn … dass allen drei Zeugen eingeflößt worden war, was sie aussagen sollten. Und zwar, ohne dass sie sich dessen bewusst waren.
Matthew rann ein Schauder über den Rücken. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Ihm wurde klar, dass er gerade einen Blick auf den mysteriösen Schatten erhascht hatte, dem er hinterherjagte.
Und das war eine schreckliche Erkenntnis. Denn es bedeutete, dass dieser Schatten größer und dunkler, seltsamer und machtvoller war, als er anzunehmen gewagt hatte. Der Schatten hatte die ganze Zeit hinter Jeremiah Buckner, Elias Garrick und Violet Adams im Gefängnis gestanden, während sie aussagten.
»Oh Gott«, wisperte Matthew mit großen Augen. Denn er erkannte, dass dieser Schatten ihrem Verstand innewohnte, ihnen Wörter, Gefühle und falsche Erinnerungen eingeflößt hatte. Die drei Zeugen waren wie Marionetten aus Fleisch und Blut, die von einer solch bösartigen Hand dirigiert wurden, dass es Matthews Vorstellungskraft überstieg.
Eine Hand. Die gleiche Hand. Eine Hand, die dem Teufel sechs Goldknöpfe an den Mantel genäht hatte. Die einen weißhaarigen Kobold, ein ledriges Echsengeschöpf, das halb Mensch war, und eine bizarre Kreatur geschaffen hatte, die sowohl einen männlichen Penis als auch weibliche Brüste hatte. Dieselbe Hand hatte diese widerwärtig perversen Momente geschaffen, sie anscheinend in die Luft gemalt, um sie Buckner, Garrick, Violet und vermutlich noch anderen Einwohnern von Fount Royal zu zeigen, die ihrer geistigen Gesundheit zuliebe längst die Flucht ergriffen hatten. Denn darum handelte es sich bei diesen Szenerien: Luftgemälde. Oder vielmehr um Gemälde, die in einem gebannten Verstand, der sie als tatsächliche Geschehnisse akzeptierte, zum Leben erwachten.
Darum konnte Buckner sich nicht daran erinnern, wo er seinen Stock hingestellt hatte, ohne den er nicht gehen konnte – oder ob er draußen in der kalten Februarnacht einen Mantel angehabt hatte. Und ob er seine Schuhe ausgezogen hatte, als er wieder ins Bett ging.
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