Sarah lächelt. »Ich höre zu.« Maßregeln lassen will sie sich nicht.
Herr Conrad wedelt mit einer beiläufigen Bewegung dem brennenden Streichholz das Leben aus. Dann platziert er es gemeinsam mit der kleinen Schachtel vor sich auf dem Tisch. Gleich neben der Teetasse. Korrekt nebeneinander ausgerichtet. Beinahe pedantisch.
Sarah beobachtet den alten Mann. In sich versunken nimmt er den Stopfer und drückt den Tabak an, der sich im Pfeifenkopf unter der Hitze des Feuers ein wenig aufgerichtet hat. Seine ruhigen und entspannten Bewegungen erwecken den Eindruck, dass er das Rauchen zelebriert. Sie geduldet sich. Mag ihn nicht noch einmal stören.
Schließlich lehnt sich Herr Conrad zurück. Fährt sich mit der Zunge durch den Mund und schluckt genießerisch. Es riecht nach Cognac.
Lia ließ sich langsam auf den Boden sinken, ohne dabei den Blick des Mannes zu verlassen. Sie achtete darauf, dass ihre Knie nach außen zeigten, während sie saß, so weit es ihr möglich war. Das verlangte er immer so. Er hatte es ihr beigebracht, bis es ihr in Fleisch und Blut übergegangen war. Es geschah sogar, dass sie sich so bewegte, wenn er nicht zugegen war. Und wenn sie nicht nackt war.
Nackt? Sarah sieht ruckartig zu Herrn Conrad. Der lächelt verschmitzt und lehnt sich gemütlich in seinen Sessel zurück. Zieht an seiner Pfeife. Als würde er den Moment genießen. Er ist sicher, dass Sarah nichts sagen wird. Sie sich auch.
Dann griff sie den ersten Schuh, schob ihn über ihren Fuß. Schlüpfte mit der Ferse hinein, bemerkte sofort, wie ihr Fußgelenk gestreckt wurde. Der Mann sah auf sie herab, nickte. Lia löste ihren Blick, bemühte sich darum, auch den anderen Schuh zügig anzuziehen. Mit beiden Händen schloss sie die Riemchen um die Knöchel und gab darauf acht, nicht zu schwanken. Als sie fertig war, verharrte sie in dieser Position.
»Steh wieder auf.«
Lia wartete nur eine einzige Sekunde, da sie erfahren wollte, ob er ihr eine Hand entgegen strecken würde. Er tat es nicht. So mühte sie sich, nach oben zu kommen, ohne dass es ungelenk aussah vor ihm. Sie konnte trotzdem nicht verhindern, ein wenig zu schwanken.
Er beobachtete sie, blieb an ihrer Seite, bis sie ruhig stand. Schließlich trat er hinter sie, legte ihr die Hände auf die Schultern. »Vertraust du mir?«
»Ja«, antwortete Lia. Sofort. Wenn sie kein Vertrauen in ihn hätte, wäre sie nicht hier. So, wie er sie sah, durfte kein anderer Mann sie sehen. Würde sie sich keinem anderen Mann zeigen. Ihr vertrautes Miteinander war eine abgeschlossene Welt, in der sie sich gemeinsam, aber völlig allein befanden. Die er regierte. Nur er.
»Dann beweise es mir.«
Lia fühlte seine Hände an den Seiten ihres Kopfes, sie legten ihre Haare nach hinten, bändigten schwarze, lange Locken über die Schultern. Als er sie aufforderte, die Augen zu schließen, folgte sie sofort. Sie ahnte, was er ihr abverlangen würde. Ein ledernes Band legte sich um ihren Kopf und über die Augen. Ein wenig zog es, als sich Dorn und Öse am Hinterkopf vereinigten.
»Zu fest? Drückt es auf die Augen?«
»Nein.« Lia wusste, dass er unverzügliche Antworten erwartete. Keine langen Sätze, kein Geplapper. Einfach nur eine deutliche, treffende Antwort. Auch das hatte sie vor einiger Zeit erst lernen müssen.
»Hände hinter den Kopf.«
Lia folgte. Berührte mit den Handinnenflächen den Nacken. Verschränkte die Finger ineinander. Instinktiv streckte sie ihren Körper. Sie wusste, welches Bild sie für ihn bot.
»Horch zu, Lia. Es gibt für dich ab jetzt nur zwei Worte für dich. Wenn ich dich darum bitte, zu laufen, wirst du laufen. Ruhig, gleichmäßig. Ohne zu zögern. Wenn ich dir sage, dass du stehen bleiben sollst, wirst du sofort stehen bleiben.«
An seiner Stimme bemerkte Lia, dass er um sie herum schritt. Mal war er rechts, mal links. Sie hielt den Kopf aufrecht und nach vorn gerichtet.
»Hast du das verstanden?«
Lia resümierte. Zwei Kommandos. Laufen, stehen bleiben. Das war nicht schwer zu begreifen. »Ja, das habe ich.« Kurz rief sie sich den Grundriss des Raumes in Erinnerung, in dem sie sich befanden. Beinahe quadratisch, mit Fliesenboden. So groß, dass Geräusche leicht in Schall verfielen. Auf einer Seite standen eine Couch und ein weicher Hocker. Etwas entfernt ein Esstisch mit Stühlen. Eine Anrichte. Ein Schrank. So, wie sie vor ihm stand, hatte sie das alles im Rücken.
Sie spürte zwei Hände an ihrer Hüfte und folgte deren sanftem Druck. Er drehte sie ein wenig. Lia setzte die Füße zweimal nach und hatte Mühe, auf den hohen Schuhen die Balance zu halten. Es fiel ihr schwer, mit den Händen im Nacken den Schwung des eigenen Körpers abzufangen, und es fiel ihr noch schwerer, das mehr als zehn Zentimeter über dem Boden zu tun. Als stünde sie auf einem unsichtbaren Seil.
»Habe Vertrauen«, flüsterte es neben ihr. Ruhig und sanft.
Lia unterließ es, zu nicken oder zu antworten. Es war keine gestellte Frage. Stattdessen konzentrierte sie sich. Couch und Hocker zur linken Hand, Esstisch weiter entfernt rechts. Anrichte voraus. Wenn sie sich richtig orientierte.
»Lauf.« Der Befehl erreichte sie von einem Punkt vor ihr. Höchstens ein Meter, schätzte Lia. Zögernd setzte sie einen Fuß nach vorn. Vorsichtig. Sie wollte nicht an ihn stoßen. Mit einem lauten Pochen stieß der Absatz auf die Fliesen.
»Halt!« Seine Stimme war laut, streng und hallte durch den Raum. »Lia!«
Sie erschrak. Sie war doch nur einen Schritt nach vorn gegangen. Ganz so, wie er es gewollt hatte. Nichts daran konnte falsch gewesen sein. Sie schob die Hände enger zusammen, richtete sich instinktiv mehr auf. Vielleicht gefiel sie ihm nicht?
Die Stimme schlug wieder direkt neben ihrem Ohr ein. Lia erschrak kurz. Biss sich auf die Lippen.
»Kein Vertrauen?«
»Doch, ich habe Vertrauen«, antwortete sie. Wartete. Hielt weiter das Kinn oben, den Kopf nach vorn gerichtet.
»Warum zögerst du dann, wenn ich dich anweise, zu laufen?«
Lia überlegte, ob sie eingestehen sollte, dass sie Sorgen hatte, an ihn zu stoßen. Dass sie nicht sicher war, ob der Weg tatsächlich frei war. Sie stand immerhin auf Schuhen, die sie stürzen ließen, wenn sie nichts sehend auf etwas trat, umknickte oder stolperte.
»Antwort?« Er wurde ungeduldig. Direkt neben ihrem Ohr.
»Entschuldigung«, sagte sie zügig und laut. Blieb bewegungslos stehen. Sie ahnte, dass er abwog, es ihr durchgehen zu lassen oder nicht. Sie hatte an seiner Entscheidung keine Anteile. Darum wartete sie. Er regierte ihre Welt.
»Lauf.« Es war nur ein Flüstern.
Lia holte Luft, mühte sich, einen normalen Schritt zu gehen. Er war zu groß für die Höhe ihrer Absätze, beinahe wäre sie ins Straucheln gekommen. Ihr nächster Schritt war darum kleiner. Couch und Hocker zur linken, Esstisch nicht mehr weit entfernt zur rechten. Anrichte voraus. Vielleicht. Noch einen Schritt. Das Auftreffen der Absätze auf den Fliesen hallte von allen Seiten zurück. Lia klammerte sich an den Gedanken, dass er in der Nähe war. Genauso konnte er aber auch stehen geblieben sein. Couch und Hocker links hinter ihr, Esstisch zur rechten. Anrichte nah. Wo blieb sein Kommando? Ihr nächster Schritt wurde noch kleiner. Lia wusste, dass sie gleich mit der Spitze eines Schuhs in die untermauerte Anrichte einschlagen würde, wenn sie so weiterlief. Es konnte kaum noch ein Meter sein, der sie von diesem Schmerz trennte. Und von einem Sturz. Kein Kommando. Sie wurde unsicher. Ihre Angst zwang sie, die Körperachse ein wenig nach hinten zu verlagern. Ihr nächster Schritt war noch kleiner als alle zuvor. Und langsamer. Gerade, als sie nach ihm rufen wollte, spürte sie zwei Arme, die sich von vorn um ihren Körper legen und sie abfingen.
»Halt.«
Sie tarierte ihr Ungleichgewicht aus, lehnte sich gegen ihn. Spürte seine Wärme auf ihrer nackten Haut. Lia wunderte sich darüber, dass er noch Platz hatte, vor ihr zu stehen. Hatte sie sich so sehr verschätzt?
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