Für das Denken Zygmunt Baumans sind Gesellschaftsgeschichte, Soziologie und Theorie der Moderne aufs Engste miteinander verknüpft. Das zeichnet auch sein erstmals 2004 in England erschienenes Buch „Europa. Ein unvollendetes Abenteuer“ aus. Mit seinen tief in der europäischen Geistesgeschichte verwurzelten Essays plädiert er für ein Festhalten am Projekt Europa.
Zygmunt Baumanlehrte an den Universitäten Warschau (bis 1968), Tel Aviv (bis 1971) und Leeds (bis 1999). Zahlreiche Veröffentlichungen, viele liegen auf Deutsch vor u.a.: „Flüchtige Moderne“, „Vom Nutzen der Soziologie“. Eines seiner Hauptwerke ist „Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust“ (eva taschenbuch).
Viele Preise und Ehrungen, wie 1989 der Amalfi-Preis, 1998 der Theodor-W.-Adorno-Preis, 2010 der Prinz-von-Asturien-Preis und 2014 der Preis für sein Lebenswerk der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Die dort gehaltene Laudatio von Ulrich Beck beschließt diesen Band.
ZYGMUNT BAUMAN
EuropaEin unvollendetes Abenteuer
Übersetzt von Martin Suhr
CEP Europäische Verlagsanstalt
Titel der Originalausgabe: Europe. An unfinished Adventure
Copyright © Zygmunt Bauman, 2004
First Published in 2004 by Politiy Press, Cambridge, UK
© des Vorworts: Zygmunt Bauman 2014
Laudatio von Ulrich Beck mit freundlicher Genehmigung. Erstmals abgedruckt in der TAZ im Oktober 2014.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.
© der ebook-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2017
Coverfoto: Grzegorz Lepiarz
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher „Europa“ (1945)
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung (auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten.
eISBN 978-3-86393-546-7
Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de
Ich danke Giuseppe Laterza und Jon Thompson dafür, dass sie mich bewogen haben, einen anlässlich einer Vorlesung in Leyden entworfenen Text zu einem umfassenderen Überblick über die gegenwärtigen Aussichten Europas zu erweitern, das sich in der zunehmend fragmentierten Welt von Leidenschaften und ethischer Verwirrung um Einheit, Vernunft und Gewissen bemüht. Ihnen ist es zu danken, dass ich mich an diese Aufgabe gewagt habe, obgleich für Fehler bei der Ausführung einzig ich verantwortlich bin. Ebenso geht mein Dank, wieder einmal, an meine Herausgeberin Ann Bone, deren unendliche Geduld sich in diesem Fall als besonders wertvoll erwiesen hat, da das Schreiben mit den schnellen Veränderungen des Themas kaum Schritt halten konnte …
Vorwort
1. Ein Abenteuer namens „Europa“
2. Im Schatten des Imperiums
3. Vom Sozialstaat zum Sicherheitsstaat
4. Unterwegs zu einer europafreundlichen Welt
Anmerkungen
Ulrich Beck
Sinn und Wahnsinn der Moderne
J. M. Coetzee, einer der größten lebenden Philosophen unter den Romanschriftstellern und einer der fähigsten lebenden Romanschriftsteller unter den Philosophen, notierte in seinem Diary of a Bad Year (Vintage Books 2008; dt. Tagebuch eines schlimmen Jahres ): „Die Frage, warum das Leben einem Wettrennen gleichen muss oder warum die nationalen Wirtschaften gegeneinander um die Wette rennen müssen, statt sich der Gesundheit zuliebe gemeinsam auf einen freundschaftlichen Lauf zu begeben, wird nicht aufgeworfen“ (S. 119). Und er fügt hinzu: „Aber ganz gewiss hat Gott nicht den Markt geschaffen – Gott oder der Geist der Geschichte. Und wenn wir Menschen ihn geschaffen haben, können wir ihn nicht abschaffen und in einer freundlicheren Form wiedererschaffen? Warum muss die Welt ein Amphitheater sein, in dem Gladiatoren auf Leben und Tod miteinander kämpfen, statt zum Beispiel ein geschäftiger kooperativer Bienenkorb oder Ameisenhügel?“ (S. 119) Einfache Worte, einfache Fragen, die nicht weniger gewichtig und überzeugend sind, nur weil es an einem mit akademischem Jargon angereicherten ausgeklügelten Argument fehlt, das sich am Geist der Märkte orientiert und Punkte zu machen sucht, statt an den gesunden Menschenverstand zu appellieren und die menschliche Vernunft aus ihrem Schlummer zu wecken und zum Handeln anzuspornen. Ja, warum? Man sollte Coetzees Frage im Gedächtnis behalten, wenn wir die gegenwärtige missliche Lage der Europäischen Union zu begreifen versuchen; wenn wir herauszufinden versuchen, wie es dazu kommen konnte, dass wir uns in ihr befinden, und welche Auswege es gibt, die nicht für immer verschlossen sind. Gegenwärtige Zwänge sind nur sedimentierte und versteinerte Überbleibsel gestriger Entscheidungen – ebenso wie die heutigen Entscheidungen die selbstverständlichen „Tatsachen“ in den entstehenden Realitäten von morgen erzeugen.
Die politischen Institutionen des zeitgenössischen Europa sind Palimpseste aus vielen Schichten. Die älteren Schichten sind, als sie mit neuen Farbschichten bedeckt wurden, nicht aufgelöst, geschweige denn ausgelöscht worden; sie können noch immer unter der dünnen neuen Schicht gelesen werden. Wie in allen Geschichten verschlingen sich auch in der Geschichte und Vorgeschichte der Europäischen Union Kontinuitäten und Diskontinuitäten aufs Innigste, und entscheidende Brüche mit dem Vermächtnis der Vergangenheit, klare Schnitte und wirklich neue Anfänge sind schwer zu finden und noch schwerer zu deuten. Das Ergebnis erinnert eher an eine zufällig zusammengeschusterte, tumultuarische und anarchische Schmiererei als an eine durchdachte Komposition – und am allerwenigsten an eine Komposition mit einer geplanten und im Vorhinein festgelegten eigenen Logik. Es sieht aus wie ein zum Scheitern verurteilter Versuch, Harmonie aus Inkohärenz und Einstimmigkeit aus Unvereinbarkeit zu beschwören, nutzlos oder sogar regelrecht trügerisch, wenn man versucht, ihn als Straßenkarte für effektives Handeln zu entfalten.
Das moderne Kapitel von Europas Versuchen, zur Einheit zu gelangen, und wenn schon nicht zur Einheit, dann doch wenigstens zu einer friedlichen Koexistenz, folgte auf die bislang erfolgreichste und dauerhafteste Verwirklichung in Gestalt des Imperium Romanum – und nachdem der posthume Versuch seiner Wiedergeburt in dem Phantom des Heiligen Römischen Reichs auf den postreformatorischen religiösen Schlachtfeldern sein Ende gefunden hatte. Es begann im Jahre 1555 in Augsburg, wohin die herrschenden Dynastien der durch kriegführende religiöse Faktionen am schlimmsten verwüsteten Teile Europas ihre Generalbevollmächtigen gesandt hatten, um eine Waffenstillstandsformel zu diskutieren und wenn möglich zu unterschreiben, die imstande wäre, den ersten (wenngleich, wie sich herausstellen sollte, nicht letzten) Bruderkrieg der Europäer zu beenden. Die Formel – cuius regio, eius religio – wurde geprägt und bestätigt, aber es brauchte noch beinahe ein weiteres Jahrhundert an Morden, Brandschatzungen, Zerstörungen und Epidemien, bis der Waffenstillstand akzeptiert, beherzigt und in die Praxis umgesetzt wurde; bis 1648, als die Sprecher der Hauptgegner einmal mehr am Verhandlungstisch saßen, diesmal in Münster und Osnabrück, um zu einer Vereinbarung zu gelangen, die als „Westfälischer Friede“ in die Geschichte eingegangen ist.
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