Egal. Ich male den Stuhl also knallrot an. Dann bringe ich ihn in die Stadt und platziere ihn möglichst dekorativ an schönen Orten, wo normalerweise viele Leute vorbeikommen (= am Stadtplatz, im Stadtpark und evtl. am Friedhof).
Nächster Schritt: Ein Foto, möglichst cool, und das stelle ich dann ins Internet – in alle sozialen Medien und auf ein eigenes Blog. Das sehen dann logischerweise massenhaft Leute, die sich natürlich fragen, ob der Stuhl jetzt noch dort steht oder nicht, und die dann diesen Ort besuchen und den Stuhl dort finden und ihn woanders hintragen und selbst Fotos machen und ins Internet stellen.
Und diese Fotos sehen dann wiederum kreative/neugierige/vom Leben gelangweilte Menschen, die versuchen herauszufinden, wo genau der Stuhl zuletzt fotografiert wurde, und hingehen und den Stuhl woanders hintragen, um wiederum ein Foto zu machen, das sie dann ins Internet stellen …
Undsoweiterundsofort. Das Projekt verselbstständigt sich und wird immer größer – und DAS macht es erst zu Kunst.
Ich weiß, ich weiß: Das ist genial. Nur mit dem Namen bin ich noch unsicher. „Der rote Stuhl“ geht ja wohl nicht. Das ist besetzt und abgelutscht. Den Werbeslogan gibt es ungefähr schon mein ganzes Leben, oder? Auch wenn ich nicht wirklich verstehe, wie man auf so eine Idee kommt. Ich meine – „Der mit dem roten Stuhl“??! Man muss echt kein Mediziner sein, damit einem auf Anhieb drei Tropenkrankheiten einfallen, auf die diese Beschreibung passt … Aber bitte. Ist ja nicht mein Möbelhaus.
• Projekt mit Stuhl
• Sit and chill
• Setz dich ein für Kunst
• Kunst braucht keinen Namen
• Du kunst mich mal
• Kunst to go | Art to go | Stuhl to go
Oh du meine LIIIIEBE! Das Cornetto heißt JOSH. Also Joshua. Aber seine Freunde nennen ihn Josh. Und seine Familie. Und Leute, die mit ihm GEKNUTSCHT haben, im MONDSCHEIN, am STRAND!!! Und nicht, dass du jetzt glaubst, ich hätte mich danach kopfüber vom Balkon hängen lassen müssen, um den Sand wieder aus den Sachen zu kriegen. Neeeeein. Gentleman Josh hat mir seinen Rettungsturm gezeigt. Aber da war nichts mehr zu retten. Rettungslos verliebt, deine Verli
Was sag ich denn? Das war soooo klar! Hauptsache, er ist Amerikaner. Wenn sie durch sind mit stundenlang Knutschen und sich ihre Zungen wieder hinter den eigenen Zahnreihen einpendeln, unterhalten sie sich ja vielleicht. Dann besteht noch Hoffnung für Verena Mahringer, 5. Klasse, Englisch. Es leben die Sprachferien!
Die möglichen Namen für mein mögliches Projekt schwirren mir im Kopf herum. #concentration. Mama schwirrt durchs Haus. Vielleicht ist sie gar nicht schwanger, sondern manisch-depressiv. Nach der Ich-liege-den-ganzen-Tag-auf-der-Couch-herum-und-dröhne-mich-mit-Liebesschnulzen-zu-Phase ist sie jetzt plötzlich in der Ich-bin-schwanger-und-alles-ist-so-wunderbar-dassich-ständig-sagen-muss-wie-wunderbar-alles-ist-Phase.
Ach, Nono, es ist so wunderbar, schwanger zu sein. Ach, Nono, es gibt nichts Schöneres, als schwanger zu sein. Ach, Nono, wenn du wüsstest …
Ach, Mama, was willst du von mir? Soll ich mir jemanden suchen, der mich schwängert? Am besten jetzt gleich, auf der Stelle? Vielleicht schaffen wir ein paar Monate gemeinsamer Schwangerschaft, dann können wir uns gegenseitig erzählen, wie wun-der-bar nicht alles ist. Aber weißt du was? Lieber nicht. Ich glaube nämlich, schwanger zu werden, bevor man von zu Hause ausgezogen ist, bevor man studiert hat, bevor man weiß, was man will im Leben, bevor man geheiratet hat, ich glaube, das ist gar nicht so wunderprächtig.
Sonst hättest du vielleicht EIN MAL in meinem Leben erwähnt, wie wunderbar es war, mit der kleinen NONO schwanger zu sein. Wie schön es war, mich neun Monate lang gut verpackt durch die Welt zu tragen. Zu spüren, wie ich in deinem Bauch strample und Purzelbäume schlage. DAVON hast du nie etwas erzählt.
Tagsüber sitzen Rettungsschwimmer in ihrem Turm. Allein. In gewissem Sinne hat der Job halt doch auch mit Verantwortung zu tun. Zumindest wenn man’s genau nimmt. Josh also im Turm. Verli in der Farbenpracht des fliederfarbenen Blümchentapetengästezimmers bei ihrer All-American-Surfing-USA-Gastfamilie, Nono in der heimeligen Abgeschiedenheit ihres It-get’s-me-high-to-be-down-there-Kellerzimmers, dazwischen die Vorzüge der Internettelefonie. Ein Hoch auf die Technik, sagt die Kunst, und ein Hoch auf die Rettungsschwimmer. Ich hab Verli jetzt doch vom Gugugagageschwisterkind erzählt. Sie ist hellauf begeistert. Und hat geschworen, das gefälligst für sich zu behalten. Wir haben Wichtigeres zu besprechen, denn jetzt wird geplant und zwar im großen Stil: „Foto mit rotem Stuhl“.
Ein Kunstprojekt, von Nono real initiiert, von Verli im Netz inszeniert.
Ein Projekt, das sich selbstständig macht. Das DADURCH erst zur Kunst wird, findet Verli auch.
Man muss es den Leuten nur noch begreiflich machen. Ihnen helfen, mit diesem ersten Schritt in Richtung Avantgarde. A-vantgarde. Schönes Wort. Der Schlachtruf der Musketiere, wenn mich nicht alles täuscht? (Keine Angst, das ist nur ein Witz. Ein sehr schlechter, zugegebenermaßen. Aber ich bin ja auch keine Kabarettistin. Ich bin Internetkünstlerin.)
Verli liebt Kunst. Sie würde die verrücktesten Dinge mitmachen, Häuser in Watte packen, tote Tiere fotografieren, das ganze Programm. Der rote Stuhl ist ein Klacks für sie. Ich schicke meine besten Stuhlfotos über den Ozean und wenig später poppen sie an allen möglichen Stellen im Netz auf. Verli postet sie auf ihrem Blog und auf Snapchat und auf Instagram. Sie kreiert einen eigenen Facebook-Account. Zackzack, alles keine Hexerei für sie. Ich sitze in der ersten Reihe fußfrei, in der VIP-Lounge, im Dozentenzimmer und spende Szenenapplaus.
Zwei Freundinnen auf edler Mission: Gemeinsam versuchen wir, die Kleinstädter kunstaffin zu machen. Da können die Musketiere einpacken.
Nur ZWEIIII Stunden später! Two! Due! Dve!
Der erste kunstaffinierte Kleinstädter: ein Kleinkind. Grad, dass es auf den Stuhl raufkommt. Auf den Schuhsohlen Initialen, in Permanent Marker-Blau. Quasi als Signatur. Oder als Message für die Welt. F. E. Für euch. ForEver. Ich sag’s ja immer. Beim Nachwuchs muss man ansetzen.
Papa ist da. Das ist gut. Das tut uns gut. Allen dreien. Endlich fühlt es sich hier zu Hause nach FAMILIE an (nicht nach „Big Sister is watching you: Die Östrogen-WG“ oder nach „Zwei Frauen gegen den Rest der Welt. Ein berührendes Drama“ oder nach „Reality TV: Teenagermütter – 15 Jahre danach“).
Die Tage fließen so dahin, wir frühstücken gemeinsam, machen hier einmal einen Ausflug zum See (gewisser Gruselfaktor, aber okay), spielen dort einmal Minigolf, zaubern zu dritt deftige Daheim-Döner, feiern Familienalltag. Staycation hat Pause. Wir machen sogar ein Stuhl-Foto, barfuß, AUF dem Springbrunnen am Stadtplatz. Also quasi im Brunnen. Nur halt oben drauf. #wirsprudeln
Es ist echt gut, Mama so entspannt zu sehen. Sie legt die Buchhaltung beiseite und die Beine hoch und den Kopf in den Nacken und lacht während zwei Marmeladesemmeln mehr als sonst in vierzehn Tagen. Das ist eine Verwandlung wie von der Raupe zum Schmetterling. Vom Beutel zum Känguru. Vom Fleischabfall zum Dönertier.
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