Und Grafikerin? Mama war ganz begeistert, dass das auf meiner Liste steht. Wo ich doch zum Geburtstag so teure Graphitstifte und Pastellkreiden, wasserverschmierbar, und einen knetbaren Radiergummi und einen riesigen Skizzenblock bekommen habe, die dann ja nicht umsonst gewesen wären, sondern quasi eine Investition in meine Zukunft. HALLO? UMSONST? Ich TRÄUME doch ständig damit!
Nur
sicher
nicht
beruflich.
Mama kapiert das nicht mit meinen Zeichnungen. Ich will kein Geld verdienen und keinen Wettbewerb gewinnen und ich will sicher keine Ausstellung mit meinen Bildern. Für mich ist Zeichnen keine Arbeit und es ist nicht Kunst.
Zeichnen ist, etwas WIRKLICHKEIT werden zu lassen. Mit jedem Scribble gebe ich einem Gedanken die Chance, real zu werden.
Das ist nicht so einfach mit den Wirklichkeiten. Sprache formt die Realität, sagt Papa. Wer immer nur negativ redet, wird im Alltag auch mehr Negatives erleben. Und mit Gedanken funktioniert das genauso. Schließlich war jedes Wort irgendwann einmal ein Gedanke – zumindest die Wörter, die nicht so schnell aus dem Mund geschossen kommen, dass sie einen selbst überraschen. Wenn ich meine Wirklichkeit aber schon selbst gestalten kann und wenn ich dann in dieser Wirklichkeit auch leben muss, dann muss ich vorsichtig damit sein.
In meinem Kopf schaut das nämlich so aus:
Da sind so unglaublich viele Gedanken, die
ALLE
STÄNDIG
WILD
durcheinanderwirbeln.
Es gäbe mindestens fünf Parallelwirklichkeiten, wenn alle diese Gedanken meine Welt gestalten würden. Das heißt, ich muss auswählen. Und das ist echt schwer.
Welche Version soll real werden? Really really real? Was, wenn ich mich falsch entscheide?
Aber ich bin ja nicht blöd. (Niemand, der laut Fragebogen das Zeug zum Lehrer hat, ist blöd. Was würde denn das bitte für unser Schulsystem bedeuten.) Ich sortiere die Gedanken im Kopf, wenn sie kurz stillhalten. Und dann hilft es, wenn ich die Gedanken auf den vorderen Plätzen zuerst einmal auf dem Papier Wirklichkeit werden lasse. Ich materialisiere meine Gedanken quasi. Ich erschaffe eine Art Vor-Welt. Um zu sehen, wie sie mir so tut. Ob sie das Zeug hat, Wirklichkeit zu werden. Ob sie es wert ist.
Genau das ist es wohl, dieses Heft hier, meine Gedanken und Notizen, Nonos gesammelte Werke, auf meiner externen Festplatte: Eine Vorwirklichkeit. Eine mögliche Spielart meiner Zukunft. Eine Chance, es doch noch anders machen zu können, bevor es zu spät ist.
Im Ferienbuch sind ganze Seiten voller Fotos. Von Leuten, die ihren Urlaub im Internet dokumentieren. Manche tun das direkt am Urlaubsort, sofort, an Ort und Stelle (damit alle wissen, WIE gut sie es haben). Andere machen das im Nachhinein, von zu Hause aus (damit die Einbrecher nicht wissen, dass sie auf Urlaub sind und ihnen zu Hause die Bude ausräumen). Die Fotos sind nicht einmal besonders spektakulär. Sie sind einfach da, im Internet, und warten darauf, dass sich jemand für sie interessiert.
Für meine Staycation würden sich vielleicht auch einige Leute interessieren. Die halbe Schule wahrscheinlich. Weil sie all die Orte kennen, an denen ich gerade urlaube. Aber ich habe keine Lust, mir beim Alleinsein zusehen zu lassen, weder live noch im Nachhinein. Das ist doch der Witz am Alleinsein: Dass NIEMAND zusieht.
Okay. Manchmal hätte ich vielleicht doch lieber, dass jemand da wäre. Jemand, der mich lieb hat.
Mama frönt der Schwangerschaftsdemenz. Sie bewegt sich zielsicher in Richtung Gehirntod. Seit ihrer zweiten Tasse Bio-Getreidekaffee in der Früh schaut sie schon die dritte romantische Liebesschnulze im Internet. Die, bei denen man schon beim Vorspann weiß, wie das Ding ausgeht. Junge Frau mit gebrochenem Herzen dreht ihrem Leben den Rücken zu und besucht ihre Tante in den Bergen. Zwei junge Männer machen ihr schöne Augen. Jeder, der selber Augen im Kopf hat, sieht von Anfang an, dass sie den Einsamen nehmen wird (den mit dem Hirtenhund und der Schafherde). Nach einem kurzen Techtelmechtel mit selbigem hüpft sie aber doch mit dem Sonnenbrillen-Haargel-Model ins Cabrio und kurvt drei Viertel vom Film mit ihm herum (während man hauptsächlich Landschaftsaufnahmen sieht und Earl Grey trinkende Hauptdarsteller, die ihre eigenen englischen Vornamen nicht richtig aussprechen können). Alles wäre perfekt – würde ihr nicht die ganze Zeit der Hund so fehlen, der von dem Schafhirten. Und da fällt es ihr wie Schuppen von den Augen: In den Cabrio-Typen ist sie zwar verliebt, aber das mit dem einsamen Schafhirten ist die WAHRE und EINZIGE Liebe (und sein Hund ist echt süß). Kuss, Sonnenuntergang, Trallala. Während der Hochzeitsfeier kommt dann auf, dass die Schöne und der CabrioTyp in Wirklichkeit Halbgeschwister sind, weil die Tante mit dem Schwager …
Ich muss raus hier. Schnell.
Ich brauche ein Kontrastprogramm.
Das Ferienbuch schlägt vor:
„Bastle schöne Dinge aus Urlaubsfundstücken. So nimmst du dir ein Stück Urlaub mit nach Hause.“
Das kann man durchaus auch als Staycation-Projekt in Angriff nehmen, würde ich sagen. Muss ja nicht unbedingt ein Vorher-Nachher-Ding sein. Also: Rein in die Schuhe, ab zum Fluss. Der Baggersee scheint mir irgendwie nicht die richtige Location. Leichen fallen definitiv nicht in die Kategorie „dekoratives Schwemmgut“.
O.M.G.!!! Hab ICH das grad geschrieben?? SORRY! Das muss der Schock sein. Im Ernst: Ich hab das noch nicht richtig verdaut. Mir graut vor dem Baggersee. Ich will da nicht mehr hin, zumindest nicht in nächster Zeit. Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.
Eine halbe Stunde Waten, Schauen, Bücken, Suchen. Und was ist das Ergebnis?
• 1 Stück Schwemmholz
• 1 Feder
• 2 Blumen
Eine extremst dünne Staycation-stay-with-me-Urlaubsfreude als Zimmerdeko. Bei DEM Stillleben wäre sogar den Malern aus dem Biedermeier das Gähnen gekommen. (#inkunstgeschichteaufgepasst)
Fürs Protokoll: Es ist nicht meine Schuld. Das hier ist einfach nicht das Meer. Das ist unser Fluss. Hier wird nicht angeschwemmt, hier wird durchgespült. So ist das nämlich.
Was allerdings wesentlich besser ginge, wären „Nimm-dir-ein-Stück-ätzenden-Alltag-in-den-Urlaub-mit“-Kunstwerke.
Dafür gibt es Material ohne Ende. Quasi Hüllen in Fülle. (HAHA! HÜLLEN! Gecheckt? Ich lach mich rostig …)
Und dann, auf einmal, einfach so, auf der kleinen Insel bei der Wehr: der Fund des Jahres. EIN STUHL! Kein Hundestuhl dieses Mal, nein, ein richtiger, wunderschöner, runder, ehrwürdiger alter Stuhl zum Sitzen. Und mit ihm kommt DIE Idee: Ich mache mein eigenes Urlaub-ist-für-Loser-Staycation-Kunst-projekt. Damit werde ich Trendsetterin.
Aufgepasst: Ich trage den Stuhl nach Hause (keine Sorge, das schaff ich schon) und streiche ihn. Am besten in Knallrot. Erstens, weil das Signalwirkung hat. Zweitens, weil wir in der Garage eine ganze Dose roten Holzlack haben, noch von Mamas Schwedisches-Gartenhaus-Projekt. Wir haben zwar mittlerweile ein Gartenhaus, aber das sieht genauso aus wie alle anderen, die es im Baumarkt im Abverkauf gegeben hat. Das einzig schwedische daran sind die Blumentöpfe von IKEA. Gut für mich. Ich verleihe dem alten Stuhl also neuen Glanz. Und warum Geld ausgeben, wenn es gratis geht? Man muss mit seinen Mitteln haushalten können. Die meisten Künstler waren bettelarm. Das gehört quasi zu einer richtigen Künstlerseele. Ich meine – Egon Schiele? Der hat seine eigenen Bilder übermalt, sagt der Vogelhuber. Weil er so arm war und sich nicht immer eine neue Leinwand leisten konnte, wenn er eine neue Idee hatte. Dass die guten Leute immer erst nach ihrem Tod Erfolg haben … Na ja. Außer Michael Jackson natürlich, und Robin Williams und Astrid Lindgren. Da sind die Leute früher draufgekommen, wie …
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