»Fünf Kilometer«, antworten wir brav im Chor.
An und für sich ist eine Lehrerin, die sich engagiert, ja echt gut. Bosse, den wir in der Vierten hatten, saß meistens nur da und fummelte an seinem Handy herum. Bosses Vorstellung von Unterricht war, einen Film über irgendein beliebiges Thema laufen zu lassen, dann aus dem Zimmer zu schleichen, um »ein paar Unterlagen zu holen«, und erst wieder aufzutauchen, wenn die Stunde um war. Letzten Herbst wurde Bosse krankgeschrieben, und dann bekamen wir Cecilia. Ich mag Cecilia. Manche in der Klasse (das heißt Tyra) stören sich daran, dass Cecilia immer die gleichen Klamotten anhat. Weißes oder graues T-Shirt. Blaue Jeans, die viel zu tight sind, wie manche (das heißt Tyra) finden. Ein typischer Tyra-Kommentar, geäußert, während sie mit offenem Mund Kaugummi kaut und zwanghaft an ihren langen braunen Haaren herumzwirbelt: »Also, ehrlich, Leute! Wie schwer kann es sein, eine Jeans in der richtigen Größe zu kaufen? Aber vielleicht findet sie es ja sexy, wenn der Speck über den Hosenbund quillt?«
Bitte, wen interessiert das schon, was für Jeans Cecilia anhat? Sie unterrichtet doch nicht mit dem Hintern?
Tyra ist meine Klassenkameradin, aber das ist ein idiotisches Wort, sie ist nämlich alles andere als meine Kameradin. Ich weiß, dass viele das gleiche Problem haben. Wie soll man es dann nennen? Klassenfeindin? Na ja, ein bisschen zu stark. Ein neutrales Wort wäre besser! Klassenmensch? Klassenwesen? Klassenperson? Tyra ist meine Klassenperson. Nicht gerade genial, muss aber genügen.
Jedenfalls. Papa meint, Cecilia sei »patent«. Und sie schafft es tatsächlich, für Ruhe zu sorgen. Das war nicht unbedingt Bosses Stärke, sagen wir mal so.
Jetzt klatscht Cecilia mit dem Stock an die weiße Leinwand, dass die ganze Erdkugel schwabbelt. Nisse zuckt zusammen.
»Wisst ihr, wie weit fünf Kilometer sind?«
Sie wartet nicht, bis jemand antwortet.
»Also, fünf Kilometer, FÜNFTAUSEND METER, das ist so weit wie von hier nach FRUÄNGEN ungefähr!«
Mir ist nicht ganz klar, wo Fruängen liegt, aber von mir aus. Meine Klassenkameraden, oder vielmehr Klassenpersonen, starren Cecilia wie hypnotisiert an. So eine Wirkung hat Cecilia auf manche Leute.
»Der Erdmantel ist VIELE TAUSEND Grad warm! Stellt euch das mal vor – hier, nur ein Stück unter unseren Füßen, gibt es eine viele tausend Grad heiße flüssige Masse!«
Cecilia stampft mit ihrem Croc auf den Boden, worauf wir alle wie gebannt auf den beigefarbenen Plastikboden starren.
»WIE viele Grad, Nisse?«
Sie richtet den Zeigestock auf Nisse. Dabei sieht sie aus wie ein Fechter, der einen Gegner zum Duell herausfordert. Nur dass Nisse keinen Degen hat. Und auch keine Antwort, wie es scheint.
»Äh … unheimlich viele?«, sagt er unsicher.
»Ja! Viele TAUSEND, ehrlich gesagt!«
Als Cecilia sich für einen kurzen Augenblick der Erdkugel zuwendet, schiebt Märta mir einen Zettel rüber, auf den sie ein lachendes Smiley gemalt hat. »Du wirst eine Superkomikerin!«, hat sie daruntergeschrieben.
Das freut mich. Und ich hoffe, sie hat recht.
Dann klinke ich mich aus. Gucke den Baum vor dem Fenster an. Kahle, dünne Äste, von einer leichten Schneeschicht bedeckt. Ich habe wichtigere Dinge, über die ich nachdenken muss, als irgendwelche albernen Erdkrusten. Wenn ich funny bones entwickeln will, muss ich mich konzentrieren. Hart und gezielt arbeiten. Zum Beispiel – die Frage, was ist eigentlich komisch? Eine Möglichkeit, Witze zu erfinden, könnte sein, verschiedene komische Themen aufzuschreiben, über die man dann frei herumgrübeln kann.
Ich starre auf das Papier mit dem Erdquerschnitt. Drehe es um. Schreibe:
KOMISCHE/NERVENDE SACHEN:
Zum Beispiel hat Märta mich einmal gefragt, warum manche Typen sich diese riesigen Hamsterbärte wachsen lassen. Ich so: »Häh? Was?«, und dann hat sich herausgestellt, dass sie HIPSTER-Bärte meinte.
Wenn die Kopfhörer sich verheddern.
Leute, die beim Filmgucken ununterbrochen labern: »Wer ist der da? Was macht die? Wohin gehen die jetzt?« Ich dann: »Oh Mann! Konzentrier dich auf den Film, dann wirst du’s schon checken!«
Alles, was alle Menschen in allen sozialen Medien machen. Wenn sie zum Beispiel supergeile Bilder von sich selbst posten und dazu schreiben, wie unmöglich sie darauf aussehen, nur um Komplimente zu angeln (Tyra). Oder wenn sie #total#unlogische#Sachen#hashtaggen. Oder wenn sie als deep status schreiben: »Bin so traurig. Niemand würde es verstehen … das hier garantiert nicht.« Und man antwortet: »Shit, was ist denn los?« Und dann kommt: »Nein, es ist nichts. Ich will nicht darüber reden.« AHA! DANN LASS ES DOCH BITTE!
(Darum hab ich mich bei SÄMTLICHEN sozialen Medien abgemeldet. Das heißt, bis auf Youtube. Ich muss immerhin Stand-up-Clips checken.)
Wenn Papa ins Zimmer kommt und irgendwas verkündet und man sagt: »Okay, okay, alles klar«, und wenn er dann rausgeht, macht er die Tür nicht zu und ich muss hinter ihm herschreien: »Mach die Tür zu!«, und dann kommt er zurück und SCHIEBT die Tür nur zu, ohne sie zuzumachen, und man kann bloß noch stöhnen: »OOOOH, Mann! Was hab ich gerade gesagt?«
Wenn Mama sauer ist –
Ich höre mitten im Satz auf. Nehme den Stift vom Papier. Ich hatte nämlich vorgehabt zu schreiben; »Wenn Mama sauer ist und will, dass ich mit ihr Deutsch spreche, und mir keine Antwort gibt, wenn ich das nicht mache.«
Das wollte ich schreiben. Aber ich tu es nicht. Weil mich das nicht mehr zu nerven braucht. Wie sehr wünschte ich, dass sie mich wieder damit nerven könnte. Das wünsche ich so sehr, dass mir das Herz fast bricht. Ich würde von früh bis spät Deutsch sprechen. Obwohl ich darin so eine Niete bin. Ich würde nie etwas anderes tun, wenn ich sie dadurch wiederbekäme. Ich würde immer Deutsch sprechen .
Für kurze Momente vergesse ich, dass sie tot ist. So wie jetzt. Die paar Sekunden, die es gebraucht hat, um »Wenn Mama sauer ist« zu schreiben.
Klar ist es gut, dass ich nicht andauernd an sie denke. Aber wenn es mir dann einfällt, öffnet sich das Dunkel in meiner Brust. Das Dunkel, das wie ein Loch ohne Boden ist und sich endlos in alle Richtungen ausdehnt. Es ist, als würden Stücke meines Herzens in das Loch fallen. Sie fallen runter und verschwinden. Ich weiß nicht, ob ich sie jemals wiederfinden werde. Ob das Herz jemals wieder ganz werden kann. Ich radiere die Worte aus. Ich radiere »Wenn Mama sauer ist« aus. Radiere so fest, dass ein Loch im Papier entsteht.
DIE KUNST, EIN KANINCHEN ZU STREICHELN
Ich gehe durch den Aspudden-Park nach Hause. Sonst gehen Märta und ich immer zusammen, aber dienstags hat sie Banjo-Unterricht, believe it or not. Von allen Instrumenten im ganzen Universum wählt sie BANJO. Aber was weiß ich schon darüber? Einmal hat sie gesagt, sie liebt ihr Banjo mehr als ihren kleinen Bruder. Das glaube ich allerdings nicht so ganz. Das war nach dem BANJOTRAUMA, wie sie es nennt, als ihr Bruder das ganze Banjo mit Erdnussbutter vollgeschmiert hat. Ich könnte mir vorstellen, dass sie das ein bisschen beeinflusst hat. Seither nennt sie ihn nur noch den Banjoschänder.
Sie bewahrt ihr Banjo in einer glänzend schwarzen Hülle mit goldfarbenen Verschlüssen auf. Die Hülle ist innen mit grünem Samt gefüttert. Garantiert liegt nicht einmal die Krone des Königs in einer prächtigeren Hülle.
Die Luft ist kalt und klar, die Sonne steht so tief, dass die weißgelben Strahlen mich blenden. Vereinzelt liegen noch große Schneeflecken zwischen den kahlen Bäumen. Immer wenn ich Zeit habe, besuche ich die Kaninchen im Park und sage ihnen Hallo. Wenn ich Tiere streicheln und mit ihnen spielen kann, werde ich jedes Mal ganz froh und ruhig, und mein Herz wird irgendwie weich. Okay, nicht mit ALLEN Tieren. Wahrscheinlich würde ich weder froh noch ruhig werden, wenn ich einen Alligator oder einen Giftskorpion streicheln würde, aber ich denke, ihr checkt, was ich meine.
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