Der Chor wird an dieser Stelle jäh durch den Botenbericht eines Palastdieners unterbrochen. Es wirkt beinahe so, als hätte der Chor seinen Gedankengang noch nicht beendet, denn sein Bild des Lebens, das man nach freiem Willen und Maßgabe hehrer Ideale führen kann, verbleibt im Status einer Skizze, die noch schärferer Konturierung bedürfte. Doch die Weiterführung bleibt der Chor schuldig. Die Erklärung hierfür findet sich im letzten Chorlied. Auffällig im Oedipus Tragödien Oedipus ist die Tatsache, dass es sich scheinbar um ein Stück mit sechs Akten und fünf Chorliedern handelt. Die letzten Akte sind jedoch eng miteinander verknüpft, was für die beiden letzten Chorlieder ebenso gilt. Das vierte Lied zeichnet die Utopie der Selbstbestimmung, das fünfte Lied beschreibt im direkten Anschluss daran die Realität des durch das fatum determinierten Menschen. Es handelt sich also vielmehr um eine Unterteilung der Lieder in 4a und 4b. Dasselbe gilt für die Schlussakte. Es würden sich für die letzten beiden Akte außergewöhnlich kurze Passagen ergeben. Auch inhaltlich ist der vermeintliche 6. Akt (998–1061) nicht mehr als ein kurzer Ausblick, um das Geschehen abzurunden, und hat somit den Status eines Epilogs. Es scheint plausibler, auch hier eine Unterteilung in 5a und 5b vorzunehmen.5
4.1.5. Realität: Unausweichliche Determination durch das fatum
An das Chorlied schließt sich der Auftakt des letzten Aktes an. Ein Botenbericht schildert die Selbstjustiz des OedipusTragödien Oedipus nach der Anagnorisis. Dort wird auch wiedergegeben, wie OedipusTragödien Oedipus seine Bestrafung begründet. Der Tod sei nicht hart genug, da er ermögliche, dem Schicksal zu entrinnen. Dies sei eine Erlösung und keine Strafe. Der Selbstmord als Ausweg bleibe somit Menschen vorbehalten, die sich weniger vorzuwerfen hätten. Der Tod sei zwar angemessen für einen Vatermörder, nicht aber für einen, der ein inzestuöses Verhältnis mit seiner Mutter gepflegt habe, da dies eine Perversion der Naturgesetze sei ( natura in uno vertit Oedipoda , 943). An der Formulierung des Verses zeigt sich die innere Spannung, die OedipusTragödien Oedipus zerreißt: Die treibende Macht der Katastrophe ist als Subjekt des Satzes die Natur selbst. OedipusTragödien Oedipus ist nur Spielball ihrer Machenschaften. Gleichwohl befindet er sich seiner Vergehen schuldig, da er sie ja begangen hat.Tragödien Oedipus 1 Sein ganzes Streben, dem Schicksalsspruch zu entgehen, muss ihm völlig sinnlos erscheinen, denn er erkennt nun, dass er dem Schicksal in die Hände gespielt hat. Er muss einen Weg finden, um sich vor dem Sturz in die Absurdität zu schützen. Sein SophoklesSchicksal im Nachhinein anzunehmen, kann nicht ausreichen. Es gilt, eine geeignete Bestrafung zu finden, um die Verbrechen zu sühnen. Die Ablehnung des Selbstmordes ist auffällig, da die Stoa diesen gerade für solch ausweglose Situationen empfiehlt.Tragödien Phoenissae 2 Doch OedipusTragödien Oedipus will nicht fliehen, sondern strafen. Passend erscheint ihm die Methode der Blendung. Dies sei weitaus schlimmer Tragödien Phoenissae als der Tod, würde so doch ein langsames, besonders qualvolles Dahinsiechen befördert, das jeglichen Lebensgenuss verhindere Tragödien Troades (949–951).3 Es ist allerdings fraglich, ob Seneca die Entscheidung des OedipusTragödien Oedipus positiv bewerten wollte. Die grausige, detailgetreue Beschreibung des Aktes der Blendung selbst (958–974)Tragödien Oedipus Tragödien Oedipus 4 hebt vielmehr ihre Unverhältnismäßigkeit hervor.Tragödien Oedipus 5 Die Bestrafung des OedipusTragödien Oedipus resultiert nicht aus rationaler Überlegung und bewusster Entscheidung, sondern aus einem übersteigerten Affekt.Tragödien Oedipus 6 In scharfem Kontrast zu diesem drastischen Bild hebt nun der Chor zu seinem letzten Lied (980–997) an und entspinnt eine abschließende philosophische Reflexion, die an das vierte Lied anknüpft.
Er singt von der Macht des Schicksals, der sich niemand widersetzen könne ( fatis agimur: cedite fatis , 980). Die gleichmäßigen anapästischen Dimeter verleihen dem Lied eine bedrückende und resignierende Note. Die Parzen hielten die Lebensfäden stets fest in der Hand, eine Veränderung des Lebenslaufes sei nicht möglich (981–986). Der Mensch sei von der Wiege bis zur Bahre determiniert ( primusque dies dedit extremum , 988). Kein Gott könne diese Tatsache verändern ( non illa deo vertisse licet , 998), Beten sei zwecklos in Anbetracht dieser unumstößlichen Ordnung ( it cuique ratus prece non ulla / mobilis ordo , 991–992). Sein Schicksal zu fürchten und vor ihm davonlaufen zu wollen, mache alles nur noch schlimmer ( multis ipsum metuisse nocet / multi ad fatum venere suum / dum fata timent , 993–995).7 Anders als im vorhergehenden Lied verzichtet der Chor hier auf ein Exempel. Zuvor hatte das Icarus-Motiv dazu gedient, erneut Assoziationen mit OedipusTragödien Oedipus zu wecken. Am Ende des letzten Liedes folgt stattdessen eine Überleitung (995–997), die den nach seiner Blendung auftretenden Oedipus Tragödien Oedipus ankündigt. Der Zuschauer muss an dieser Stelle die Bezüge nicht mehr selbst herstellen: OedipusTragödien Oedipus fungiert hier als lebendes Beispiel.
Iocaste eilt hinzu und wird mit der rasenden Agaue verglichen (1004–1006). Der Vergleich mit der Mutter des Pentheus ist an dieser Stelle das erste Mal explizit aufgeführt und rundet so die Reihe der Anspielungen auf die Episode ab. Auch Iocaste hat von dem Inzest mit ihrem Sohn erfahren. Sie versucht, die Schuld dem Schicksal allein zuzuschreiben, denn niemand könne schuldig werden, wenn das Schicksal es von vorneherein bestimmt habe ( fati ista culpa est: nemo fit fato nocens , 1019).8 Iocaste wählt hier die stoische Argumentationsweise der Schuldlosigkeit bei fehlendem Vorsatz. OedipusTragödien Oedipus lässt sich jedoch auf diese Erklärungsstrategie nicht ein. Es stellt sich für ihn nicht die Frage nach der objektiv feststellbaren Schuld, für ihn ist klar, dass er im Bewusstsein seiner Taten nur über die Selbstbestrafung bis zu einem gewissen Grade seinen inneren Frieden wiedererlangen kann. Iocaste wählt daraufhin den Selbstmord und ersticht sich mit dem Schwert, bezeichnenderweise in den Unterleib.Tragödien [Octavia] Nero9 OedipusTragödien Oedipus klagt, nun auch noch indirekt zum Mörder seiner Mutter geworden zu sein ( bis parricida , 1044),Nero10 das Schicksal sei also noch härter zu ihm gewesen als ursprünglich prophezeit. Er beschließt daraufhin, ins Exil zu gehen, und fordert sein grausames Schicksal und sämtliche damit verbundene Übel auf, die Stadt mit ihm zu verlassen. Der Kreis schließt sich am Schluss des Oedipus Tragödien Oedipus . Mit der Verheerung der Pest hatte das Stück begonnen, mit ihrem Auszug endet es.
4.1.6. Oedipus : Einsicht in die existentielle Absurdität
Tragödien Oedipus Das fünfte Chorlied ist das Resultat einer langen Reflexionskette, die über das ganze Stück hinweg geflochten wurde.1 Alle Kerngedanken, die in den vorigen Chorpartien zur Sprache gekommen waren, werden durch die Conclusio zu einem abschließenden Ergebnis geführt. Seneca schafft hier einen synthetisierenden Schlusschor, der die Interpretation der Tragödie auf den Punkt bringt. Im ersten Lied hatte der Chor eine Exposition der desolaten Situation gegeben und somit die Frage nach dem Leid definiert. Im zweiten Lied hatte er eine göttliche Strafe vermutet, die für einen vorsätzlichen Frevel erfolgt sei. Im dritten Lied wurde dieser Gedanke dahingehend weitergesponnen, dass das Strafmaß für unabsichtlichen Frevel das gleiche sei. Das vierte Lied stellt einen Gegenentwurf dar, das Bild eines Menschen, der nach eigenem Gutdünken sein Leben völlig frei gestalten kann. Im Rahmen einer solchen utopischen Konzeption ist allerdings jeder Frevel das Resultat einer freien Gewissensentscheidung und damit zu verurteilen. Doch der Chor wird unterbrochen und kann diesen Gedanken gar nicht zu Ende bringen, da diese Konzeption der Welt nicht der Realität entspricht. Deswegen versucht er auch gar nicht, im letzten Lied noch einmal darauf einzugehen, sondern stellt abschließend fest, nach welchem Gesetz die Welt seiner Meinung nach funktioniert: Der Mensch ist vollkommen determiniert. Alles wird durch die Macht des fatum regiert.Tragödien Oedipus 2 Daraus ergibt sich die Frage nach der Schuld des einzelnen und welche Eigenverantwortung bleibt, wenn jede Handlung determiniert ist. Diese Fragestellungen entsprechen dem Konflikt, in dem sich OedipusTragödien Oedipus befindet und an dem er verzweifelt. Der Mensch hat auf das Schicksal keinen Einfluss und ist ihm hilflos ausgeliefert. Die Konsequenzen für sein bewusstes oder unbewusstes Fehlverhalten muss er ertragen. Das Rechtssystem der stoischen Ethik, das Schuldlosigkeit bei fehlendem Vorsatz proklamiert, wird somit wirkungslos. OedipusTragödien Oedipus ist das Negativbeispiel für einen Menschen, der an der stoischen Schuldkonzeption zerbricht und keinen Ausweg aus der unlösbaren Absurdität des Seins findet.Tragödien Oedipus Tragödien Oedipus Tragödien Oedipus 3 Dieser Verstehensprozess eines Menschen, der am Ende erkennen muss, dass die eigene Existenz absurd ist, ist minutiös in den Chorliedern abgebildet. In der Form einer mise-en-abyme verdichten sie die Aussagen der einzelnen Akte und legen so in chronologischer Reihenfolge die Problemstellung des gesamten Dramas dar.
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