Doch vorerst trugen Klephten und Clans ihre Streitigkeiten trotz fremder Mächte weiter aus wie bisher und wollten sich keiner Zentralgewalt unterwerfen. Nach einer katastrophalen Niederlage in Missolonghi 1826 kam es im Oktober 1827 zur entscheidenden Schlacht im Hafen von Navarino; die europäische Flotte versenkte fast alle Schiffe des ägyptischen Sultans Mehmet, der dem Osmanischen Reich noch einmal zu Hilfe gekommen war. Ein Protokoll hielt die Kapitulation der Türkei fest, und im April wurde schließlich Graf Ioannis Kapodistrias aus Korfu, ein erfahrener Politiker in russischen Diensten, Mitglied von Filiki Eteria und Gründer des Vereins der Philomusen, zum ersten Präsidenten einer ersten Verfassung gewählt. Mit zahlreichen Maßnahmen versuchte er eine Zentralverwaltung gegen die widerspenstigen Provinzherren durchzusetzen, wurde aber 1831 von griechischen Clanchefs ermordet. Gerüchte kursierten, es sei ein englischer Hinterhalt gewesen, um Russland keinen zu großen Einfluss auf das griechische Geschick zu lassen; andere Gerüchte besagten im Gegenteil, er sei das Werkzeug Russlands geblieben, und wieder andere verdächtigten ihn, selbst König werden zu wollen. Lulu Gräfin Thürheim, die ihn 1817 in Karlsbad kennenlernte, beschrieb ihn jedoch in ihren Erinnerungen ungemein beeindruckt: »Es ist dies ein bescheidener Mann, dessen Charakter und Verstand ihm jedoch die Herrschaft über alle geben, mit denen er verkehrt; sein durchdringender und schwermütiger Blick offenbart von Haus aus die Seele eines Philosophen, der über alles nachgedacht und erkannt hat, dass nichts auf dieser Welt großen Wert besitzt. Sein griechischer Akzent (er ist Korfe) verleiht seiner Aussprache etwas Fremdes und Graziöses, das mit der Ruhe seiner Bewegungen, seiner originellen Beredsamkeit und der Harmonie in seinem ganzen Wesen übereinstimmt und ihn in meinen Augen ganz anders erscheinen lässt, wie die übrigen Leute von Geist, mit denen ich bisher zusammentraf. Nichts verrät an ihm den Günstling. Capo d’Istria wäre vollkommen liebenswert, wenn er um zehn Jahre älter wäre, denn mit seinen kaum vierzig Jahren und seinem reizenden Lächeln und Augen, wie ich sie noch nie so schön gesehen habe, könnte er etwas weniger ernst und mehr jung sein.«
Trotz oder wegen andauernder Spannungen im Lande einigten sich die Großmächte in einem zweiten Londoner Protokoll nun auf den jungen bayerischen Kronprinzen Otto von Wittelsbach, der von seinem Vater ohnehin schon in leidenschaftlicher Griechenverehrung erzogen worden war. Mit Otto kamen an die sechstausend Helfer ins Land, teils Soldaten, teils Beamte, teils einfach Abenteurer oder gebildete Freunde des Landes, von denen viele später ebenfalls zu Beamten erhoben wurden. Es wurde eine erste Begegnung der Deutschen mit der griechischen Realität in sozialer, politischer und kultureller Hinsicht; und es wurde eine oft zermürbende, teils von rücksichtslosem Herrschaftswillen, teils aber auch von großem Idealismus getragene Koexistenz. Faust und Helena, mochte man meinen, versuchten sich endlich in einer Ehe, deren Stifter inzwischen gestorben war. Um dem antiken Ideal näher zu kommen und das Land mit Verstand zu regieren, brauchte man Juristen, Soldaten, Lehrer, Architekten, Dichter und Maler. Verwaltung, Bildung, Militär, Rechts- und Sozialwesen mussten eingerichtet werden; und das Leitbild gab dabei natürlich der bayerische Staat unter Ludwig I. ab, dessen Griechenliebe schon bis ins »y« im Landesnamen von Bayern hineingereicht hatte. Zu den bekanntesten deutschen Kulturhelfern der neuen Athener Regierung zählten damals neben dem Pädagogen Friedrich Thiersch, dem engagierten Lehrer von Otto, auch der Architekt Friedrich Wilhelm von Gärtner, Erbauer des Athener Schlosses und Kollege von Leo von Klenze. Klenze galt wie Gärtner als Ludwigs Hofarchitekt; mit seinen zahlreichen Bauten in München sollte und wollte er ein zweites Athen herstellen; selbst die sogenannte Walhalla in Regensburg spiegelte trotz ihres germanischen Namens das Parthenon. Klenze war zwar stärker als Gärtner hellenistisch inspiriert, aber dennoch kein verträumter Griechenfreund wie sein größter Konkurrent aus Preußen, Karl Friedrich Schinkel. Dieser glanzvolle Baumeister und schließlich sogar Oberbaurat des gesamten Landes war Philhellene durch und durch, dazu ein begabter Maler und Bühnenbildner, auch wenn fast die Hälfte seiner Entwürfe blieben, was sie waren. 1825 widmete er sein letztes großformatiges Gemälde namens »Blick in Griechenlands Blüte« dem griechischen Freiheitskampf; es zeigte halbnackte junge Männer beim Tempelbau nach den Regeln griechischer Architektur. Und nun, anlässlich des bayerischen Regierungsantritts, entwarf er auf Anregung des preußischen Kronprinzen einen Palast, der eine Akropolis völlig umgestalten sollte, die Schinkel selber nie gesehen hatte. Die Ruinen von Parthenon, Propyläen, Erechtheion und Niketempel sollten abgeräumt und in Gärten integriert werden. Erwartungsgemäß kritisierte Leo von Klenze die umfangreichen Pläne heftig und erfolgreich als »Sommernachtsträume« und meinte, die welthistorische Athener Akropolis dürfe allein Sache der Archäologen sein.
Wirklich gehörte Schinkel, wie die meisten preußisch protestantischen Philhellenen im 19. Jahrhundert, zu den Auslandsfreunden, die sich aus zweiter und dritter Hand über die leibhafte Wirklichkeit Griechenlands informierten. So etwa hatte er ausgiebig das Werk der Engländer Stuart und Revett studiert, das für die Zwecke eines Architekten wie geschaffen war, da es die genauesten Maßangaben und Zeichnungen einschließlich der antiken Grundrisse enthielt und damit ohne weiteres in architektonische Lehrbücher und Sammlungen architektonischer Entwürfe eingehen konnte. Europäische Baukunst war für Schinkel gleichbedeutend mit griechischer Baukunst, im Sinne Winckelmanns und nach der Devise, »das Notwendige der Construction schön zu gestalten«. Aber Schinkel begeisterte sich eben auch für phantastische Architektur; an die vierzig Bühnenbilder stammen von ihm. 1816 hatte er mit seiner Berliner Ausstattung von Mozarts »Zauberflöte« Goethe für sich gewonnen; es waren zwölf herrlich orientalisierende Bühnenbilder, darunter das sternenübersäte Pantheon für den Auftritt der »Königin der Nacht«.
Keinen anderen Opernkomponisten hat Goethe in Weimar so häufig aufgeführt wie Mozart; zwischen 1791 und 1813 wohl fast dreihundertmal; darunter die Zauberflöte mit 82 Aufführungen am häufigsten. Dass Goethe selber eine Fortsetzung zu der Oper verfasst hat, ist fast vergessen, dabei gab es schon seit 1795 erste Entwürfe, die auch gedruckt, aber nie aufgeführt wurden. Angeblich fand Goethe keinen Komponisten dafür; angeblich hatte Mozarts Librettist, Emanuel Schikaneder, eine eigene Fortsetzung gedichtet. Goethes »Zauberflöte II« hatte seltsamerweise nur ein Thema: das Kind, das Pamina und Tamino sich wünschen und gezeugt haben, und das schließlich nach einer Irrfahrt als »Genius« aus einem Sarg gerettet wird, während die Kinder von Papageno und Papagena aus drei Vogeleiern schlüpfen. Das Motiv des bedrohten, geraubten, verschleppten oder gar getöteten Kindes gehörte zu Goethes Schlüsselphantasien. Seit der realistischen Kindsmordepisode aus »Faust I« stand das nahezu alchemistisch gezeugte Knäblein Otto aus den »Wahlverwandtschaften« von 1808 in seinem Horizont, und präsent war Goethe natürlich beständig auch das Knäblein Justus aus dem faustischen Puppenspiel in Frankfurt. Das Geschöpf, welches später als Euphorion in »Faust II« abenteuerlich umhertanzt, ähnelt dem Schicksalskind aus der Zauberflöte II bedeutsam. Denn auch diese Zauberflöte II durchzieht ein Hauch von paradoxer, weil mythologischer Naturwüchsigkeit, wenn der Nachwuchs vom Vogelfänger, der ja selber kein Vogel ist, aus Eierschalen springt. Es war eine Anspielung auf Helena, die nach der Sage von einem schwangestaltigen Zeus gezeugt und von der Mutter Leda in einem Ei geboren wurde, zusammen mit Zwillingen, den Dioskuren. Zugleich wird in diesem Libretto auch höhere Weisheit bemüht, die Weisheit der Freimaurer, die schon Mozarts Komposition erfüllt. Der Mythos von Isis und Osiris steht hinter den Zeilen und den erahnten Noten; das Kind dieser beiden ist kein anderer als Horus, das Götterkind, der oberste Gott der ägyptischen Religion. Gab es also hinter Faust und Helena ein hochkulturelles, orientalisches Muster, ein Muster, das zwar nicht auf Erlösung, wohl aber auf Versöhnung der Gegensätze aus war? So wollten es spätere Erben der goetheschen Spätwelt verstanden wissen, als es um den Grundstein der sogenannten »Anthroposophie« gehen sollte; so hat es auch seit 1956 dann Katharina Mommsen dokumentiert, die dem Herzstück der west-östlichen Goetheforschung ein Lebenswerk gewidmet hat.
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