Wenigstens gab es nicht nur den griechischen Aufrührer Alabanda in diesem Roman, sondern eben auch eine Diotima. Mit ihr erinnerte Hölderlin namentlich an die einzige und überragende weibliche Figur aus den Dialogen des Sokrates, wo sie die mystische Theorie der Liebe erläutert – und nun also auch Hyperion zur Nächstenliebe auffordert: »Ich bitte, dich, geh nach Athen hinein, noch einmal, und siehe die Menschen auch an, die dort herumgehn unter den Trümmern, die rohen Albaner und die andern guten kindischen Griechen, die mit einem lustigen Tanze und einem heiligen Märchen sich trösten über die schmähliche Gewalt, die über ihnen lastet – kannst du sagen, ich schäme mich dieses Stoffs? Ich meine, es wäre doch noch bildsam. Kannst du dein Herz abwenden von den Bedürftigen? Sie sind nicht schlimm, sie haben dir nichts zu leid getan. Was kann ich für sie tun, rief ich. Gib ihnen, was du in dir hast, erwiderte Diotima …«
»Hyperion«, dieser Briefroman über den allerersten griechischen Befreiungskampf, erschien in zwei Bänden zehn Jahre nach der Französischen Revolution. Napoleon war Erster Konsul geworden und unterwegs zum Kaisertum. Mit der historisch viel älteren Szene des Romans erinnerte Hölderlin an die Seeschlacht von Tschesme im Auftrag Katharinas, unter Leitung des Grafen Orlow 1770. Zwar besiegten damals die Russen die Türken, aber der Aufstand im Land der Griechen misslang – und dieses Misslingen hielt der Roman nun auch seiner eigenen Gegenwart vor. Napoleons Aufstieg bedeutete das Ende der Freiheit in Frankreich wie auch in Deutschland, dem der wohl schneidendste Satz des Romans galt: »Es ist ein hartes Wort und dennoch sag’ ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossne Lebensblut im Sande verrinnt?«
Hölderlins Roman wurde trotz aller Liebe zum Traumvolk nicht in die neugriechische Katharevousa übersetzt. Der einzige Grieche, der dazu fähig gewesen wäre, Rigas Velestinlis, wurde 1798 hingerichtet; und als es 1832 endlich einen Staat mit kulturellen Ambitionen gab, hatte anderes Vorrang.
Fallmerayers Tirade empörte jedenfalls das gesamte philhellenische Feld. Im Nu machten die Sätze die Runde, bis hin zu Ludwig I., der dem Autor die Professur entzog. Auch die Griechen selber protestierten und bestärkten ihre Forschungen zur byzantinischen Kontinuität des Hellenentums. Eine der herausragenden und beispielhaften Figuren in dieser Gesellschaft war der Theologe Theoklitos Farmakides. Nach einem Studium in Istanbul, Jassy und Bukarest wurde er 1811 geweiht und dann nach Wien geschickt, wo er bis 1818 als Priester wirkte. Hier lernte er Latein, Französisch und Deutsch, wurde Mitglied der Filiki Eteria und Mitherausgeber der Zeitschrift »Hermes Ho Logios«, einem Sprachrohr von Adamantios Korais. Damit war Farmakides ein entschiedener Verteidiger der Katharevousa. Am griechischen Aufstand nahm er ab 1821 teil; als Mitglied der ersten Nationalversammlung wurde er ab 1825 Herausgeber der »Allgemeinen Zeitung von Griechenland«, dem späteren Amtsblatt der Regierung und unter Otto I. treibende Kraft bei der Synode von 1833. 1837 erhielt er den Lehrstuhl für Theologie an der neuen Universität Athen. Zweifellos kannte er das Pamphlet des Griechenfeindes Fallmerayer, und womöglich war es auch Thema des Unterrichts.
Unter seinen Studenten muss damals jedenfalls ein gewisser Theodorus Vimbos aus Athen gewesen sein, später Bischof dortselbst und Erzbischof von Mantineia. Im Jahr 1856 verdiente sich Vimbos noch Geld als Sprachlehrer vorübergehend in Petersburg. Unter seinen Schülern war ein prominenter deutscher Geschäftsmann, der seit Ende des Krimkrieges als reichster Mann der Petersburger Börse galt. Er hieß Heinrich Schliemann – und der Moment, in dem er den jungen Vimbos traf, war schicksalsträchtig. Ihn, den eingefleischten Geschäftsmann, hatte nämlich nach eigener Auskunft eine unerhörte Sprachpassion erfasst. Fast verzweifelt schrieb er im Dezember 1856 seiner Tante Magdalena nach Kalkhorst: »Wissenschaften und besonders Sprachstudium sind bei mir zur wilden Leidenschaft geworden, und jeden freien Augenblick darauf verwendend ist es mir gelungen, in den zwei letzten Jahren noch die polnische, slavonische, schwedische, dänische sowie im Anfang d. J. die neugriechische Sprache fertig zu erlernen, so daß ich jetzt 15 Sprachen geläufig spreche u. schreibe. Die furchtbare Passion für Sprachen, die mich Tag und Nacht quält und mir fortwährend predigt, mein Vermögen den Wechselfällen des Handels zu entziehen u. mich entweder ins ländliche Leben oder in eine Universitätsstadt wie z. B. Bonn zurückzuziehen, mich dort mit Gelehrten zu umgeben u. mich ganz und gar den Wissenschaften zu widmen, ist jetzt schon seit Jahren in blutigem Kampf mit meinen zwei anderen Leidenschaften, dem Geiz und der Habsucht …«
Zwei Jahre später hatte er genügend Neu- wie auch Altgriechisch gelernt, um eine erste große Reise nach Athen anzutreten; aber die Geschäfte, vielleicht auch die Reichtumsgier eines Schatzgräbers und überhaupt Geltungssucht fesselten ihn und seine Ursehnsucht noch zwölf Jahre, bevor er in der Türkei nach Homer zu suchen und zu graben begann.
Heinrich Schliemann, geboren 1822 in Neubukow, Mecklenburg, aufgewachsen in Ankershagen, jammervoll gestorben auf einer Straße in Neapel, war ein kultureller Oligarch, wie ihn die Welt oder mindestens die deutsche bis dahin noch nicht gesehen hatte. In einen ärmlichen Pfarrhaushalt verschlagen, mit einem offenbar brutalen, aber kenntnisreichen Vater gestraft, verlor er früh die Mutter und musste schon mit vierzehn als Handlungsgehilfe arbeiten. Aber er war der Arbeit physisch nicht gewachsen. Nach Missgeschicken auf See kam er mit zwanzig in Amsterdam in einem Handelskontor unter; hier lernte er zwar Handel treiben, fühlte sich aber unterfordert und lernte Sprachen gleich schockweise: erst Englisch, Französisch, Holländisch, Spanisch, Portugiesisch und Italienisch, später Russisch. Offenbar war niemand in seiner Umgebung darüber erstaunt. 1846 ging er nach Petersburg und baute ein Imperium auf; schon 1854 galt er dort als Börsenmagnat, und das erst recht, als ihm der Krimkrieg 1854–1856 das Vermögen noch einmal verdoppelte; er hatte rechtzeitig Waren für das Militär eingekauft. Aber nun machten Geschäfte ihm keine Freude mehr; er fürchtete beständig Verluste und träumte nur noch von Bildungsreichtum. Inzwischen hatte er Reisen quer durch Europa und bis nach Amerika absolviert, Schwedisch und Polnisch gelernt, bis er in Petersburg auf Theodorus Vimbos traf, den Mann seiner Träume. Mit ihm entwickelte er eine eigene Methode, lernte erst Neu-, dann Altgriechisch und verständigte sich wenn nötig mit einer Mischung aus beidem. Es vergingen aber noch weitere zehn Jahre mit Geldverdienen, Reisen und Sprachenlernen in Asien und im Orient, ehe er sich 1866 in Paris niederließ, um ein Studium aufzunehmen. Alle möglichen Fächer wurden erwogen, aber die Antike reizte ihn dann offenbar doch am meisten. 1868 kam er zum ersten Mal über Italien zur Peloponnes und in die Türkei nach Hissarlik, wo nach Meinung einiger Fachleute und gebildeter Dilettanten Troja, die berühmteste Stadt aus Homers »Ilias« liegen musste. Mit dem Bericht über diese Reise promovierte Schliemann 1869 an der Universität Rostock; im selben Jahr heiratete er die blutjunge Griechin Sophia Engastromenou, eine Nichte seines Griechischlehrers. Zwei Jahre später hatte er sich endlich mit den türkischen Behörden geeinigt und stürzte sich auf die Ausgrabung Trojas im damals türkischen Gebiet. Er glaubte an die Wörtlichkeit der homerischen Epen wie ein Pietist an das Evangelium; Odyssee und Ilias waren für ihn nicht Gedichte, sondern Landeskunden, wenn auch rühmend und spannend vorgetragen. Seine amtlichen Grabungen begann Schliemann im Oktober 1871, neun Monate nach dem Sieg von Versailles und der Krönung von Wilhelm I. zum deutschen Kaiser, wofür er sich offenbar nicht interessierte. Im Lauf der kommenden zehn Jahre machte er weltweit beachtete, aufsehenerregende Funde, wenn auch die Fachwelt, besonders die deutsche, ihm immer wieder misstraute, nicht selten zu Recht. Aber er fand tatsächlich Stadtreste, die er Troja nannte, und er fand einen spektakulären Goldschatz, den er dem mythischen Trojanerkönig Priamos zuschrieb. Auch seine späteren Grabungen im griechischen Mykene machten Schliemann reich, als ob er das noch nötig gehabt hätte; in fünf sogenannten »Schachtgräbern« fand er wiederum lauter Schätze, am berühmtesten darunter eine goldene Gesichtsmaske: für Schliemann war es frei nach Homer die Maske von Agamemnon, dem Herrscher von Mykene und Anführer der Griechen im Trojanischen Krieg – also eben im Krieg um die legendäre Helena, Königin von Sparta und Frau des Menelaos, dessen Bruder Agamemnon war. Helena war mithin seine Schwägerin.
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