Und sie siecht dahin. In einem Pflegeheim.
Oh. Mein. Gott.
Ich habe wirklich keine Ahnung, was ich davon halten soll.
Ganz sicher war es nicht das, was ich erwartet hatte, als mich Onkel Thomas an diesem schönen Nachmittag im Mai in sein Büro bestellte. Er ist nicht wirklich mein Onkel, eher ein Freund der Familie. Ich vermute, dass er und meine Mutter früher mal was miteinander hatten, als ich noch ein Kind war, aber sie waren Freunde geblieben, und später trat er als ihr Sachverwalter auf. Sie müssen wissen – meine Mutter, Judy Talbot, ist zweiundsiebzig Jahre alt. Und sie hat Alzheimer. Das ist eine furchtbare Krankheit, und sie schlug unerbittlich zu. Schlich sich nicht einfach langsam an, wie sie das bei den meisten Erkrankten tat. Es war beinahe so, als ging es ihr den einen Tag noch gut, und dann konnte sie sich schon nicht mehr an meinen Namen erinnern. Fünf Jahre später, nachdem die Krankheit bei ihr ausgebrochen war, musste ich sie ins Woodlands North bringen. Das war unangenehm, aber nötig, und ohne Onkel Thomas hätte ich es nicht geschafft. Die Ironie an der Sache ist, dass es ihr körperlich noch ziemlich gut geht. Sie war schon immer gut in Schuss, trotz der Trinkerei und der Depressionen. Doch dann, eines Tages, schaltete ihr Gehirn ab, und sie konnte sich nicht mehr um sich selbst kümmern. Die körperlichen Beschwerden, mit denen sie jetzt zu kämpfen hat, sind schlicht Begleiterscheinungen des Pflegeheims, in dem sie seit zwei Jahren verkümmert. Ja, sie stirbt, einen langsamen und schlimmen Tod. Die Ärzte wissen nicht, wie lange ihr noch bleibt. Bei Alzheimer weiß man das nie.
Das Büro von Onkel Thomas befindet sich in Arlington Heights, Illinois. Das ist ein Vorort im Nordwesten von Chicago. Ich bin da aufgewachsen. Ich wohnte mit meiner Mutter in einem Haus in der Nähe des Zentrums, von wo aus wir einen Pendelzug nehmen konnten, wenn wir in die große Stadt wollten.
Arlington Heights war früher ein flippiger, malerischer kleiner Ort, in dem nicht viel los war, als ich dort in den Sechzigern und Siebzigern aufwuchs. Heutzutage haben sie ihn zugebaut und zu einem Ausgehviertel gemacht, mit Kinos, trendigen Restaurants, Nachtklubs und Geschäften. Aber ich lebe da nicht mehr.
Ich wohne jetzt etwas weiter nördlich, in einem Ort namens Buffalo Grove. Ich lebe allein, obwohl ich eine Tochter habe. Sie wohnt bei ihrer Mutter – meiner Ex-Frau – in Lincolnshire. Diese Orte liegen alle nah beieinander. Deshalb ist es kein großer Umstand, bei Onkel Thomas vorbeizuschauen, oder meine Mutter in Woodlands zu besuchen, das in Riverwoods liegt. Und das tue ich. Also, meine Mutter besuchen, meine ich. Wenigstens einmal die Woche. Abgesehen von meiner Tochter, die sie ab und an besuchen kommt, bin ich der Einzige, den sie noch hat – auch wenn sie die meiste Zeit keine Ahnung hat, wer ich bin.
Janie, Onkel Thomas' Sekretärin, begrüßte mich herzlich, als ich ins Büro kam. Wir tauschten ein paar kurze Nettigkeiten aus und dann meinte sie, dass ich zu ihm hinein kann. Er saß an seinem Schreibtisch und brütete über einem Stapel Dokumente. Onkel Thomas ist etwa so alt wie meine Mutter und arbeitet immer noch acht Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Er sah auf, lächelte und erhob sich. Wir gegrüßten uns, schüttelten einander die Hände, dann bot mir einen Sessel an. Er lief um seinen Schreibtisch herum und schloss die Tür, damit wir ungestört waren.
»Also, was gibt's?«, fragte ich. Am Telefon hatte er sich ziemlich geheimnisvoll angehört.
»Martin, ich habe hier etwas, dass ich dir geben soll.« Er deutete auf seinen Tisch und auf eine schwarze, metallene Schatulle, eine von der Art, in der man Dokumente oder Wertsachen aufbewahrt. Daneben lag ein A4-großer Umschlag mit meinem Namen und meiner Adresse darauf.
»Was ist das?«
»Das ist von deiner Mutter.« Als ich die Stirn runzelte, fuhr er fort. »Sie hat das schon vor langer Zeit vorbereitet. Vor fünfzehn Jahren, um genau zu sein. Für den Fall, dass sie stirbt oder nicht mehr geschäftsfähig ist, sollte ich dafür sorgen, dass du diese Dinge bekommst. Diesen Brief, und diese Schatulle.«
»Wo war das die ganze Zeit?«, fragte ich.
»Ich hab es aufbewahrt. Treuhänderisch, sozusagen.«
»Weißt du, was drin ist?«
»Nein, Martin, das weiß ich nicht. Deine Mutter hat sehr deutlich gemacht, dass der Inhalt privat und vertraulich ist. Ich habe einige Zeit mit mir gerungen, wann ich es dir geben soll. Ich denke, der Zeitpunkt ist gekommen, wo man sich eingestehen sollte, dass deine Mutter tatsächlich nicht mehr Herr ihrer Sinne ist. Sie wird sich von dieser furchtbaren Krankheit nicht mehr erholen, es sei denn, man erfindet noch ein Wundermittel, und die Chancen stehen schlecht, dass sie das erleben wird. Nun, deshalb sind wir jetzt hier. Tut mir leid, dass ich so lange gewartet habe.«
Ich war nicht sauer auf ihn. Ich konnte die Zwickmühle verstehen, in der er steckte, aber viel mehr interessierte ich mich für das Zeug auf dem Tisch. Was konnte sie besitzen, dass diese Geheimniskrämerei rechtfertigte?
»Na, dann wollen wir mal sehen.« Ich hielt ihm die Hand entgegen, und er gab mir zuerst den Umschlag. Es fühlte sich so an, als würde er – logischerweise – einen Brief enthalten und etwas Schwereres aus Metall. Vielleicht der Schlüssel für die Schatulle?
Ich öffnete den Umschlag, und tatsächlich viel ein kleiner Schlüssel in meinen Schoß. Ich legte ihn erst einmal beiseite, zog den Brief heraus und las ihn.
Der Brief war auf der alten elektrischen Schreibmaschine geschrieben worden, die wir früher besaßen. Meine Mutter hatte handschriftlich das Datum hinzugefügt und am unteren Ende mit »Judith May Talbot« unterschrieben.
Ich musste ihn drei Mal lesen, um zu verstehen, was da geschrieben stand.
Onkel Thomas musterte mich gespannt. »Du brauchst mir nicht zu sagen, was darin steht, wenn du es nicht willst«, erklärte er. Dennoch sah ich ihm an, dass er vor Neugier platzte.
Für eine Weile saß ich in dem Sessel und war wie vor den Kopf geschlagen. Mir war nach Lachen zumute, und ich glaube, ich habe tatsächlich gelacht. Ich fragte Onkel Thomas, ob das ein Scherz sein sollte. Er antwortete, dass es kein Scherz sei und fragte, wie ich darauf käme.
»Schon gut«, antwortete ich.
Dann las ich den Brief noch einmal. Schüttelte den Kopf.
Es war ein Geständnis. Darin gab meine Mutter zu, dass ihr Name in Wirklichkeit Judith May Cooper lautete, und dass sie die Black Stiletto gewesen war. Sie hatte dieses Geheimnis seit den Sechzigern für sich behalten, als sie ihr Kostüm an den Nagel hängte, ihren Namen änderte und versuchte, ein normales Leben zu führen. Meine Zweifel ahnte sie voraus und wies darauf hin, dass mich der Inhalt der Schatulle überzeugen würde. Außerdem sicherte sie mir die Rechte an ihrer Lebensgeschichte zu. Kurzum, sie überließ es mir, ob ich mit ihrem Geheimnis an die Öffentlichkeit gehen wollte oder nicht.
Ich faltete den Brief zusammen und schob ihn zurück in den Umschlag. Dann nickte ich in Richtung der Schatulle. »Dann schau ich da mal rein.« Onkel Thomas reichte sie mir, und ich benutzte den kleinen Schlüssel, um sie aufzuschließen. Ich war nicht sicher, ob es mir recht war, wenn er sah, was sich darin befand, und er schien das zu bemerken.
»Vielleicht sollte ich dich kurz damit allein lassen?«
»Wenn es dir nichts ausmacht, Onkel Thomas?«
»Überhaupt nicht. Ruf mich einfach, wenn du mich brauchst.«
Er verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Ich öffnete den Deckel und fand ein zusammengefaltetes Stück Papier, drei Schlüssel an einem Schlüsselring und ein paar andere Kleinigkeiten darin. Ich nahm den Zettel heraus, faltete ihn auseinander und blickte auf eine Art Grundriss. Für eine Weile studierte ich den Plan, bis mir dämmerte, dass es der Grundriss unseres Kellers war. In dem Haus, wo ich aufwuchs. Wo seit zwei Jahren niemand mehr lebte. Es stand zum Verkauf, aber niemand interessierte sich auch nur ansatzweise dafür. Die Maklerin, Mrs. Reynolds, fand dafür immer wieder die gleichen Ausflüchte – die Marktlage sei schlecht, die Wirtschaft sei schuld, an dem Haus müsste etwas gemacht werden und so weiter.
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