Rico Steinmann blieb nichts anderes übrig, als eine Schleife zu ziehen und auf den kleinen Christoph zuzusteuern. Dieser befand sich in höchster Lebensgefahr. Immer wieder tauchte er mit dem Kopf unter die Wasseroberfläche und schluckte vermutlich reichlich Wasser. Mit Erleichterung registrierte der Elbguide, dass der Dampfer seinen Kurs änderte. Noch zehn Meter bis zu dem Jungen.
Evelyn Kellner weinte: „So tut doch was! Mein Kind ertrinkt!“
Ihr Mann reagierte jetzt, sprang in den Fluss und kraulte auf seinen Sohn zu. Fast zeitgleich erreichten Boot und Vater den Jungen. Robert bekam sein gerade abtauchendes Kind im letzten Moment zu fassen; drückte es sich an die Brust und nach oben an die Luft. Schnell waren die helfenden Arme des Guides zur Stelle und zogen die Beiden aus dem kühlen Nass. Steinmann presste die Hände auf die Brust des kleinen Mannes. Christoph spuckte ein Schwall Wasser aus. Er schlug die Augen auf. Es schien ihm gutzugehen. Sofort kümmerten sich die Eltern um ihren nassen und frierenden Sohn. Das war nochmal glimpflich abgegangen. Aber was war mit der „Kurort Rathen“, die unfreiwillig vom Kurs abgekommen war?
Die Schaufelräder barsten über den steinigen Flussgrund. Hier war das Wasser viel zu flach für das große Schiff. Ein Rucken erschütterte den Dampfer und schien ihn fast zu stoppen. Das Schiff wurde für einige Sekunden in seinen Grundfesten erschüttert. Doch dann war es wieder frei und glitt in tiefere Gewässer. Daniel Fischer hatte die Dampfmaschine deaktiviert. Werner Bosch stürzte in den Arbeitsbereich seines Maschinisten und blickte durch die Fenster. Einige Schaufeln der Steuerbordseite waren massiv lädiert, aber man würde die Fahrt wohl fortsetzen können.
Was den Männern entgangen war: Einige Yards hinter dem Schiff und nur zehn Meter vom Uferrand stand eine schwere, uralte, kupferne Grabplatte offen, die zuvor durch schwere Stahlketten gesichert gewesen war. Diese lagen durch die Kollision mit dem Dampfer, verstreut und in einzelne Stücke gerissen um die mittelalterliche Grabstätte herum. Ein uralter Fluch sollte sich nun erfüllen und die Pforten zur Hölle standen erneut offen…
Unter der Wasseroberfläche gluckerte und brodelte es in der Dunkelheit der Nacht, die über dem Tal der Elbe herrschte. Heiße Dämpfe, welche direkt aus der Hölle zu kommen schienen, stiegen aus dem Inneren der Erde empor. Sie bahnten sich durch das Jahrhunderte alte Grab am Elbgrund ihren Weg in den Fluss und erwärmten blubbernd das dahinfließende Wasser. Geheimnisvolles Wispern erklang: „Schwester, der Fluch erfüllt sich.“
Menschliche Skelette lagen in der Gruft. Sie waren von einem blauen fluoreszierenden Licht umgeben, welches zwei weibliche attraktive Körperformen um die beiden Gerippe gebildet hatte. Plötzlich lösten sich die leuchtenden Erscheinungen von den Knochen und stiegen aufwärts, aus der geöffneten Grabplatte in die Elbe hinein.
„Wir sind frei Schwester. Jemand hat das Siegel gebrochen“, zischte eine zweite feminine Stimme.
„Ja“, flüsterte die Andere, „ich verzehre mich nach geilem Menschenfleisch. All die Jahrhunderte mussten wir auf diesen Augenblick warten.“
Nur der Teufel persönlich schien zu wissen, wie sich die Geister unter der Wasseroberfläche miteinander verständigen konnten.
Die zwei blauschimmernden Wesen tauchten graziös und neugierig auf die Welt dort oben durch den Strom, um auf die Jagd nach Menschen zu gehen.
Das Elbtal lag in dichten Nebelschwaden. Der feine Dunst hatte sich großflächig zwischen den Tafelbergen ausgebreitet und leuchtete mystisch im Licht des Vollmondes. Es war nahezu still. Nur ab und zu donnerte einer der langen Güterzüge in Richtung tschechischer Grenze. Dann kehrte wieder Ruhe ein und alles was man hören konnte, waren die Rufe eines Käuzchens, welches sich in den dichten Waldbestand an den Hängen der gewaltigen Sandsteinfelsen aufhielt. Die Tiere in dieser wildromantischen Natur schienen sich mit dem gelegentlichen Lärm des Bahnbetriebs zu arrangieren. Der Strom der Elbe floss genügsam und ruhig durch die Schlucht. Kein Anzeichen einer Wellenbewegung war zu erkennen. Oder doch? Dort hinten glitt ein kleines Boot sanft durch das Wasser. Es war mit einer Person besetzt.
Mark Westermann saß inmitten der Spanten und genoss den Augenblick. Was für eine wundervolle Nacht! Am frühen Abend hatte es geregnet. Aber jetzt blickte er gen Himmel und sah die Vielzahl der Sterne in ihrer ganzen Pracht. Rechts türmte sich das gewaltige Schrammsteinmassiv empor, dessen Felsen steil aus dem Nebelmeer nach oben ragten. Die Sandsteine wurden vom Mondlicht in ein fantastisches Licht gehüllt, während von links die ersten Lampen von der Ortschaft Krippen erschienen.
Es war schon sehr spät. Der Junggeselle liebte dieses Fleckchen Erde über alles. Westermann war ein richtiger Naturbursche. Tagsüber kam der geborene Dresdener häufig in das Elbsandsteingebirge. Dann war hier keine Erhebung mehr vor ihm sicher. Der 32-jährige liebte das Klettern und hatte schon so manchen Berg bezwungen. Morgen plante Mark im Rathener Gebiet eine Tour, doch für heute Nacht war die Bootsfahrt entlang der Elbe angesagt.
Das Pfeifen eines Zuges ertönte und schon gleich raste die Lok mit den vielen Waggons an ihm vorbei.
Von Schmilka, dem letzten Ort vor der Grenze zu Tschechien, war Westermann gestartet. Sein Auto parkte dort am Elbufer und würde morgen per Bahn von ihm abgeholt werden. Doch jetzt genoss Mark die Fahrt entlang der Elbe. Wie weit könnte seine Reise in der sanften Strömung wohl gehen? Bis nach Pirna, das Tor zur Sächsischen Schweiz?
Die ersten größeren Gebäude von Bad Schandau tauchten zwischen den Nebelschwaden auf der rechten Elbseite auf. Mark köpfte eine Bierpulle und nahm einen kräftigen Schluck.
Vor einem halben Jahr hatte er mit seiner damaligen Freundin die Beziehung beendet. Es war ihm einfach zu viel geworden. Mit ihr ließen sich solche Ausflüge wie heute Nacht nicht machen. Lieber hing sie in den Szene-Lokalen Dresdens ab. Westermann bevorzugte jedoch die Natur. So hatte er dann einen Schlussstrich gezogen. Endlich frei! Endlich kann ich machen, wonach mir der Sinn steht.
Feine Bläschen bildeten sich an der Wasseroberfläche. Vielleicht ein großer Fisch, der da neben dem kleinen Boot seine Bahnen zog? Westermann war gerade mit sich und der Welt im Reinen und ließ seinen Blick über die Elbe schweifen. Es war irgendwie wie ein kleines Abenteuer, so etwas nachts zu machen. Der 32-jährige schaute nach vorne und sah im Mondlicht den Lilienstein.
Auf einmal wurde der Nebel wieder dichter. Eine klare Sicht war nicht mehr möglich. Mark fröstelte. Schnell streifte er die Kapuzenjacke über. Von einer Sekunde auf die andere schien die beruhigende Atmosphäre umzuschlagen. Ein Blubbern auf der Backbordseite erklang. Er schaute in die Richtung, aus der er das Geräusch vernommen hatte. Da ist nichts! Kein Grund zur Panik . Der Nebel umhüllte das Boot; so dicht, dass man schon nicht mehr die eigene Hand vor Augen sehen konnte. Irgendetwas war hier ungewöhnlich. Der 32-jährige täuschte sich nicht in seiner Vermutung. In der Tat passierte hier gerade etwas, dass man mit normalen Worten nicht erklären konnte.
Gischt spritzte an den Bootsspanten auf. Die Wasseroberfläche teilte sich, als zwei Hände zum Vorschein kamen. Sie waren schlank und schuppig. Die Handrücken glichen der Haut einer Echse; die Fingerwaren schwammig, aber doch grazil und wurden von spitzen Fingernägeln abgeschlossen, die sich am Kunststoff des Bootes hochtasteten.
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