Mir entging nicht, dass Elisabeth ungewöhnlich still und in sich gekehrt war, doch die Freude über unsere Zusammenkunft und den herrlichen Tag nahmen mich so in Anspruch, dass ich erst später darüber nachdachte.
Nachdem wir sie in ihr gemütliches Heim zurückgebracht hatten und meine Freundinnen schon zu dem wartenden Kombi hinaus gegangen waren, blieb ich noch einige Minuten bei ihr. Sie sah mich mit einem Blick an, den ich als staunendes Innesein deutete, und sagte: “Noch nie bin ich mit einer Gruppe von Frauen so beisammen gewesen.” Damals verstand ich die tiefere Bedeutung dieser Bemerkung noch nicht.
Jetzt verstehe ich sie. Nach der Lektüre der Beiträge dämmert mir, dass sie sich wahrscheinlich noch nie mit einer Gruppe von Frauen in einer rein geselligen Situation befunden hatte, Frauen, die mit ihrer Lebensaufgabe nichts zu tun hatten und die nichts von ihr wollten.
Die Berichte bestätigten mir auch, was ich schon lange geahnt hatte. Aufgrund meiner eigenen Erfahrung mit Elisabeth und der von Bekannten war ich überzeugt, dass sie auf jeden Menschen, der ihr vor Augen trat, so reagierte, wie es ihrem Wesen entsprach. Ich spürte, dass ihr Energiesystem sie befähigte, das Wesen anderer förmlich zu “lesen”.
So sagte sie zu mir und anderen oft: “Ich kann einen phony baloney (leeren Schwätzer) riechen”, und das war wörtlich gemeint. Ich glaube, sie wusste sofort, wenn sie Menschen begegnete, warum diese zu ihr gekommen waren, worin ihr Seelenauftrag bestand und wie sie mit ihnen umzugehen hatte. Natürlich hatte sie keinen Seelenauftrag mit Menschen, die sie aus eigennützigen Zwecken aufgesucht hatten. Wenn das geschah, konnte Elisabeth – die ihr Missvergnügen nie verhehlte – mit einem Verhalten reagieren, das besagte: “Geh mir aus den Augen!”
Was meine eigene Erfahrung mit ihr betrifft, so denke ich, dass sie meine Empfindsamkeit, mein Bedürfnis nach Ermächtigung und Selbstbehauptung erkannte. Sie reagierte auf mich mit großer Zartheit, Liebe und Achtung. Ich kann nachempfinden, was Cheryl Shohan in ihrem Beitrag schrieb: dass Elisabeth sich freute, wenn man sich ihr gegenüber zu behaupten wusste.
In meiner ersten Begegnung mit Elisabeth stellte ich etwas, das sie gesagt hatte, mit Bestimmtheit (und rechtens) in Frage. Wir blickten uns fest in die Augen und spürten eine gegenseitige Achtung und einen Seelenkontakt, der zehn Jahre hindurch nie wankte. Ich nahm mir vor, in meinem Umgang mit ihr immer die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie ihr nicht gefiel, aber es würde immer die Wahrheit sein, wie ich sie erkannte.
Wir führten viele Gespräche über das Leben, die Familie, über Ehemänner und vor allem über unsere Kinder. Ich konnte für einige Wahrheiten einstehen, die ich aus Irrtümern, die mir auf dem Weg unterlaufen waren, gelernt hatte. Ich sagte nie, tu dies oder jenes, und predigte nicht. Das war nicht mein Stil. Ich teilte ihr nur ruhig und liebevoll meine tiefempfundenen Erfahrungen mit – und sie hörte zu.
Zu diesem Zeitpunkt, fast ein Jahr nach ihrem Tod, wird mir klar, dass durch die Leidenschaft der Aufgabe, dieses Buch auf die Beine zu stellen, sich unsere Verbindung weiterhin auf mich auswirkt. Wie viele andere AutorInnen dieses Buches bekräftigen, wird unsere Verbindung mit Elisabeth den Rest unseres Lebens ohne Zweifel unauslöschlich prägen.
Ich meine, dass sie jeder Seele genau dort begegnete, wo diese stand, und von dort aus weiterging. Wenn man offen dafür war, seine Träume auszuleben und seiner Bestimmung zu folgen, war sie da, um einem beizustehen und zu helfen. Wenn man mit seinem Standort zufrieden war, war auch das in Ordnung. Als einzige unilaterale, ganz und gar unverhandelbare Bedingung stellte sie, dass man absolut authentisch war.
Diejenigen, die sie kannten, werden bei der Lektüre dieses Bandes feststellen, dass einige verwirrende Aspekte ihres Lebens sich jetzt wie Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Diejenigen, die sie nicht kannten, werden die private Seite von Elisabeth durch die Erinnerungen derer entdecken, die mit ihr gelebt haben, sei es als Familienmitglieder, als Freunde, Mitarbeiter, Patienten oder Menschen, die einfach eine kurze Begegnung mit ihr hatten.
“Zum Tee bei Elisabeth” gewährt Einblick in das heroische Leben eines Individuums, das nur menschlich war und doch ein wahrhaft einzigartiges Schicksal erfüllte. Sie war eines jener seltenen, außergewöhnlich begabten Wesen, die einen Auftrag auf sich nehmen, der größer ist als das menschliche Verlangen nach Gemeinschaft und Liebe.
Elisabeth musste angesichts erbitterten Widerstands und offener Feindseligkeit auf schiere Kühnheit, absolute Hingabe und verbissene Entschlossenheit zurückgreifen, um das zu tun, was ihr Auftrag war – oft allein. Sie wurde häufig verleumdet und missverstanden, und trotzdem gab sie nie auf und gab nie nach.
In ihrem Inneren wusste sie immer, dass es nicht um sie selbst ging, sondern um ihre Botschaft.
Wenn Berühmtheit einem Menschen den Status einer Ikone verleiht, kennt man ihn nur durch seine öffentliche Persona, und im Prozess der Vergötterung und Idealisierung verliert diese Person oft ihre menschlichen Züge. Das widerfuhr auch Elisabeth, als Millionen von Menschen sie nur als “Tod-und-Sterben-Tante” kannten.
Aber sie war so viel mehr. Wir meinen, dass dies in den starken, bewegenden und inspirierenden Berichten von Menschen zum Ausdruck kommt, deren Leben von einem kleinen Energiebündel berührt wurde, von einer Frau, die zu einem Katalysator des globalen Wandels wurde und die dennoch so vollständig und wunderbar, auf so schöne und schmerzhafte Weise menschlich war.
In jedem von uns
steckt mehr Potenzial des Guten ,
als wir uns vorstellen können;
des Gebens, ohne nach Belohnung zu fragen;
des Zuhörens, ohne zu (ver)urteilen;
des bedingungslosen Liebens .
Elisabeth Kübler-Ross
Balfour M. Mount
Zufällige Schicksalsbegegnung
Als einer der ersten anerkannten Architekten der internationalen Hospizbewegung unterhielt Balfour Mount mehr als drei Jahrzehnte lang eine enge Freundschaft mit Elisabeth. Er beleuchtet ihren Status als “Rockstar” und wie sie “ständig mitten im Strudel von Kontroversen” stand .
Die Nachricht von Elisabeths Tod am 24. August 2004 erfüllte mich mit Trauer und Dankbarkeit. Wenige Menschen haben in meinem Leben eine so bedeutende Rolle gespielt wie sie. Ich fühlte mich augenblicklich in meine erste Begegnung mit Elisabeth Kübler-Ross zurückversetzt. Es war in den frühen 1970er Jahren während ihrer ersten Vorlesung an der McGill Universität in Montreal, Kanada. Ich hatte ihr Buch “Interviews mit Sterbenden” noch nicht gelesen und fand mich zu der späten Nachmittagsrunde aufgrund einer zufälligen Bemerkung einer Kollegin ein. Im Geiste höre ich, wie Elisabeth augenzwinkernd zu mir sagt: “Na klar! Nichts geschieht durch Zufall!”
Die Szene war außergewöhnlich, um nicht zu sagen bizarr. Das Amphitheater war rappelvoll, alle 350 Plätze waren besetzt. Ältere Kollegen saßen in Zweierreihen auf den Stufen; Studenten hockten im Schneidersitz dicht gedrängt auf dem Boden um den Tisch herum, der als improvisierter Thron für unsere leger darauf platzierte Gastprofessorin diente.
Ich war spät dran, aber es gelang mir, mir ganz hinten im Auditorium einen Weg durch die Menge zu bahnen. Ich sehe noch den eminenten Neurologen Francis McNaughton – den “heiligen Francis”, wie er gewöhnlich genannt wurde – vor mir, eine von McGills Ikonen in klinischer Kompetenz und Eleganz, wie er in der dritten Reihe der hinter der letzten Sitzreihe Stehenden auf den Zehen balancierte, um etwas sehen zu können. Es lag eine große Erwartung in der Luft.
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