»Es ist unstreitig sein Daumenabdruck.«
»Na bitte, das genügt doch«, sagte Lestrade. »Ich bin Praktiker, Mr. Holmes, und wenn ich meine Beweise habe, komme ich zu meinen Schlüssen. Falls Sie noch etwas zu sagen haben: Sie finden mich im Wohnzimmer, wo ich jetzt meinen Bericht abfassen werde.«
Holmes hatte seine Fassung wiedergewonnen, obwohl ich in seiner Miene noch immer einen Schimmer von Belustigung wahrzunehmen glaubte.
»Meine Güte, Watson, welch überaus traurige Entwicklung, nicht wahr?« sagte er. »Und doch ist daran einiges Merkwürdige, das zu Hoffnungen für unseren Klienten Anlaß gibt.«
»Das freut mich zu hören«, sagte ich von Herzen. »Ich fürchtete schon, es sei gänzlich vorbei mit ihm.«
»So weit würde ich nun kaum gehen, mein lieber Watson. Tatsache ist, daß diesem Beweisstück, dem unser Freund soviel Bedeutung beimißt, ein einziger wirklich ernster Mangel anhaftet.«
»Tatsächlich, Holmes? Welcher denn?«
»Nur dies – daß ich weiß, daß dieser Abdruck nicht da war, als ich den Raum gestern untersucht habe. Und nun, Watson, wollen wir ein bißchen im Sonnenschein Spazierengehen.«
Verwirrten Sinnes, doch mit einem Herzen, in das erwärmend ein wenig Hoffnung zurückströmte, begleitete ich meinen Freund auf einen Rundgang durch den Garten. Holmes besah sich das Haus eingehend von allen Seiten und untersuchte es mit großem Interesse. Dann begab er sich hinein und ging vom Keller bis zum Dachboden durch das ganze Haus. Die meisten Zimmer waren unmöbliert, gleichwohl aber inspizierte Holmes sie alle aufs genaueste. Im oberen Korridor, an dem drei unbewohnte Schlafzimmer lagen, wurde er schließlich wieder von einem Heiterkeitsausbruch gepackt.
»Dieser Fall weist wirklich ein paar sehr einzigartige Züge auf, Watson«, sagte er. »Ich denke, es ist jetzt an der Zeit, daß wir unseren Freund Lestrade ins Vertrauen ziehen. Er hat sein kleines Lächeln auf unsere Kosten gehabt, und vielleicht können wir es ihm heimzahlen, falls meine Version des Falles sich als richtig erweisen sollte. Ja, ja; ich glaube, ich sehe, wie wir die Sache angehen müssen.«
Der Scotland Yard-Inspektor war noch immer im Salon mit Schreiben beschäftigt, als Holmes ihn unterbrach.
»Wenn ich nicht irre, verfassen Sie gerade Ihren Bericht über diesen Fall?« fragte er.
»Allerdings.«
»Halten Sie dies vielleicht nicht für ein wenig verfrüht? Ich kann mir nicht helfen, aber ich denke, Ihr Beweismaterial ist unvollständig.«
Lestrade kannte meinen Freund zu gut, um seinen Worten keine Beachtung zu schenken. Er legte seine Feder ab und sah ihn neugierig an.
»Was wollen Sie damit sagen, Mr. Holmes?«
»Nichts weiter, als daß es einen wichtigen Zeugen gibt, den Sie noch nicht gesehen haben.«
»Können Sie ihn beibringen?«
»Ich denke schon.«
»Dann tun Sie das.«
»Ich werde mein Bestes tun. Wie viele Beamte haben Sie hier?«
»Drei in Rufweite.«
»Ausgezeichnet!« sagte Holmes. »Darf ich fragen, ob sie alle groß und stark sind und über kräftige Stimmen verfügen?«
»Ich zweifle nicht daran, wenn ich auch nicht wüßte, was ihre Stimmen damit zu haben könnten.«
»Vielleicht kann ich Ihnen helfen, dies einzusehen, wie auch einige weitere Dinge«, sagte Holmes. »Seien Sie so gut und rufen Sie Ihre Männer zusammen, dann werd ich's versuchen.«
Fünf Minuten später waren die drei Polizisten in der Vorhalle versammelt.
»Im Hintergebäude werden Sie eine beträchtliche Menge Stroh finden«, sagte Holmes. »Ich möchte Sie bitten, zwei Ballen davon hierherzubringen. Ich denke, dies wird uns am meisten dabei helfen, den von mir gesuchten Zeugen hervorzulocken. Recht vielen Dank. Ich nehme an, Sie haben ein paar Streichhölzer in der Tasche, Watson. Nun, Mr. Lestrade, möchte ich Sie alle bitten, mir in die obere Etage zu folgen.«
Wie schon gesagt, befand sich dort ein breiter Flur, an dem drei leere Schlafräume lagen. Sherlock Holmes ließ uns alle an einem Ende des Flurs antreten; die Polizisten grinsten, und Lestrade starrte meinen Freund mit einem Gesicht an, über das Verwunderung, Erwartung und Spott einander jagten. Holmes stand vor uns mit der Miene eines Zauberkünstlers, der einen Trick vorführen will.
»Würden Sie freundlicherweise einen Ihrer Beamten zwei Eimer Wasser holen lassen? Legen Sie das Stroh hier auf den Boden, aber so, daß es an keiner Seite die Wand berührt. Nun dürften wir wohl alle bereit sein.«
Lestrades Gesicht war allmählich rot und wütend geworden.
»Ich weiß nicht, ob Sie uns zum Narren halten wollen, Mr. Sherlock Holmes«, sagte er. »Wenn Sie etwas wissen, können Sie es uns auch ohne diese Possen sagen.«
»Ich versichere Ihnen, mein guter Lestrade, ich habe für alles, was ich tue, einen triftigen Grund. Sie erinnern sich vielleicht, daß Sie mich vor ein paar Stunden, als die Sonne auf Ihrer Seite der Hecke zu stehen schien, ein wenig aufgezogen haben, und Sie dürfen mir daher mein bißchen Pomp und Feierlichkeit jetzt nicht mißgönnen. Darf ich Sie bitten, Watson, dieses Fenster zu öffnen und dann ein Streichholz an den Rand des Strohs zu halten?«
Nachdem ich dies getan, wirbelte, vom Luftzug angezogen, eine graue Rauchfahne durch den Korridor, indes das trockene Stroh knisterte und züngelte.
»Nun wollen wir sehen, ob wir diesen Zeugen für Sie auftreiben können, Lestrade. Dürfte ich Sie alle bitten, mit mir in den Ruf ›Feuer!‹ einzustimmen? Nun denn: eins, zwei, drei –«
»Feuer!« schrien wir im Chor.
»Ich danke Ihnen. Darf ich Sie noch einmal bemühen?«
»Feuer!«
»Nur noch einmal, Gentlemen; und alle zusammen.«
»Feuer!« Der Schrei muß in ganz Norwood zu hören gewesen sein.
Kaum war er verklungen, geschah etwas Erstaunliches. Plötzlich flog in der scheinbar massiven Mauer am Ende des Flurs eine Tür auf, und ein kleiner verhutzelter Mann kam wie ein Kaninchen aus seinem Bau daraus hervorgeschossen.
»Großartig!« sagte Holmes ruhig. »Watson, einen Eimer Wasser über das Stroh. Das reicht! Lestrade, gestatten Sie mir, Ihnen den wichtigsten fehlenden Zeugen vorzustellen: Mr. Jonas Oldacre.«
Der Inspektor begaffte den Neuankömmling in fassungsloser Verblüffung. Letzterer blinzelte im hellen Licht des Korridors und starrte erst uns, dann das schwelende Feuer an. Er hatte ein abstoßendes Gesicht – verschlagen, boshaft, hämisch, mit verstohlenen hellgrauen Augen und weißen Wimpern.
»Was soll denn das?« sagte Lestrade schließlich. »Was hatten Sie denn dort die ganze Zeit zu suchen, he?«
Oldacre lachte beklommen und wich vor dem zornesroten Gesicht des wütenden Inspektors zurück.
»Ich habe nichts Böses getan.«
»Nichts Böses? Sie haben Ihr Bestes getan, einen unschuldigen Mann an den Galgen zu bringen. Ohne diesen Gentleman hier wäre es Ihnen womöglich sogar gelungen.«
Der Elende begann zu winseln.
»Aber Sir, ich wollte doch bloß einen Streich spielen.«
»Oho! Einen Streich, ja? Sie werden die Lacher nicht auf Ihrer Seite finden, das verspreche ich Ihnen! Bringen Sie ihn hinunter und verwahren ihn im Salon, bis ich komme. Mr. Holmes«, fuhr er fort, als sie gegangen waren, »ich konnte vor den Beamten nicht sprechen, aber ich stehe nicht an, Ihnen im Beisein von Dr. Watson zu sagen, daß dies das Glorreichste ist, was Sie je vollbracht haben, obwohl es mir ein Rätsel ist, wie Sie darauf gekommen sind. Sie haben einem Unschuldigen das Leben gerettet, und Sie haben einen sehr ernsten Skandal, der meinen Ruf bei der Polizei ruiniert hätte, verhindert.«
Holmes lächelte und klopfte Lestrade auf die Schulter.
»Mein guter Sir, Sie werden finden, daß Ihr Ruf nicht ruiniert, sondern enorm gefestigt worden ist. Ändern Sie nur ein weniges an dem Bericht, den Sie bereits geschrieben haben, und man wird begreifen, wie schwer es ist, Inspektor Lestrade Sand in die Augen zu streuen.«
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