„Dir auch Bub, a guat’s Nächtle.“
Die Nacht verlief ruhig, der Mond schien silberhell über den Bergen des Oberengadins. Über allen Gipfeln ist Ruh, so hätte man singen können. Gegen Morgen, noch sehr früh am Tag, wurde Uschi wach. Sie musste sich erst besinnen, wo sie war. Dann fiel es ihr ein: Auf Urs Jagdhütte befand sie sich. Mit Diether, der ebenfalls mitgekommen war und sicher mit ihr und ihrer Patentante in dieser Berghütte einige Zeit verweilen würde. Es war Mitte August und noch Urlaubszeit. Ursula hatte noch bis Mitte September Schulferien und Diethers Semester begann erst einen weiteren Monat später. Dies alles ging Ulli gerade durch den Kopf. Sie konnte es immer noch nicht glauben, dass ihr die erste große Liebe begegnet war. Sie wussten eigentlich noch gar nichts voneinander.
Im Halbdunkel des Zimmers regte sich jemand und schlug im zweiten Bett die Augen auf. „Guten Morgen, meine Süße, du bist ja schon wach?“, fragte Diether gähnend.
„Ja, schon eine Weile, mein Lieber! Diether, kimm amoal her zu mir, ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen.“
„I kimm gleich, ich suche nur meine Latschen, ah, da sind sie ja.“ Dann stand er in seiner ganzen Länge von 1,80 Metern aus dem Bett auf, reckte und streckte sich, kam zu Uschis Schlafcouch und setzte sich neben sie. Er nahm sie zuerst in seine Arme und küsste sie liebevoll auf den Mund. „Was ist es denn so Bedeutendes, das du von mir wissen möchtest?“, fragte er freundlich.
„Alles, Burli. Ich möcht a bisserl mehr über dich erfahren, nicht nur deinen Namen, sondern auch, wo du in Wien wohnst, was du in deiner Freizeit tust, woher du kamst, als wir uns in Luzern begegnet sind. Hast du eine Freundin in deiner Heimatstadt und was studierst du an der Universität? Welche Hobbys hast du außer Bergsteigen?“ Dies alles wollte Ursula an diesem stillen Morgen von Diether, der so urplötzlich in ihr Leben getreten war, wissen.
„Ach Uschilein, es ist unverzeihlich, dass ich noch nichts zu meiner Person gesagt habe. Erstens bin ich Student, wohne mitten in Wien, studiere Germanistik, Philosophie, Volkswissenschaften und so nebenbei ein wenig Psychologie. Ich spiele Cello, Klavier und manchmal Geige, bin in der Meisterklasse für Celli auf der Musikhochschule und komme aus einer Lehrerfamilie. Ich habe noch eine Schwester. Zweitens, woher ich kam? Ich war mit einem Spezl in Zermatt, wir haben die Matterhorn-Nordwand Anfang August durchstiegen und zuletzt im Appenzeller Land in der Kreuzberggruppe verweilt. Bei der Matterhorn-Nordwand sind wir aber nur bis zur Schulter am Hörnligrat geklettert, wir wären sonst in eine Schlechtwetterzone geraten. Ob das jetzt als Besteigung gewertet wird, das wissen die Götter, wenn ja, wäre es die elfte Durchsteigung. Dafür werde ich die Nordwand mit großer Wahrscheinlichkeit im nächsten Jahr alleine versuchen. Bei diesem Durchstieg habe ich festgestellt, dass sie gut zu klettern ist, technisch bei guten Verhältnissen ein vierter Grad. Bei schlechtem Wetter kann aus einem vierten Schwierigkeitsgrad auch schnell ein fünfter Grad werden, wenn die Kletterstelle mit Eiswasser überzogen ist. Du schaust so skeptisch drein, Schatz, das brauchst du nicht, da ich die Wand und die Route, welche ich gehen werde, kenne. Das ist für mich eine normale Bergtour. Aber mach dir bitte keine Sorgen, bei schlechtem Wetter werde ich erst gar nicht in die Wand einsteigen. Drittens: Eine Freundin habe ich nicht, war bis jetzt immer nur mit den Bergkameraden in den Bergen unterwegs. In der Steiermark, dem Gesäuse, der Rax und in den Westalpen. Meistens mit Peter und Toni. In diesem Kletterrevier der Wiener Bergsteigerelite haben wir schon viele Touren unternommen. In den Hohen Tauern, der Großglockner Nordwand, der Grand Capucin Ostwand, der Drue Westwand und der Torre Trieste Südwand mit Claudio Barbier 1957. In den Westalpen noch die Lyskamm Nordwand, die Breithorn Nordwand und jetzt die Matterhorn Nordwand. So, das sind im Moment eigentlich meine wichtigsten Schandtaten im Gebirge. Meine Hobbys sind: das Theater, Musik, wie du weißt, Literatur und im Winter Skilaufen. Dabei habe ich mit Peter die Überschreitung des Gosaukammes mit Skiern im Frühjahr 1956 durchgeführt. Nun, das war’s bis heute. Und was wirst du mir mitteilen, Kleines?“
Nun war sie an der Reihe, ihm ihr bisheriges Leben zu erzählen. „Also, ich wohne in Trostberg an der Alz im schönen Chiemgau. Wir wohnen fünfundzwanzig Kilometer vom Chiemsee entfernt. Ich gehe in Wasserburg am Inn auf die Realschule für Mädchen, in die Förderklasse für Haushaltswesen und Sozialpädagogik, und bin zurzeit in der fünften Klasse – auf dem Gymnasium ist das Untertertia. Mein Berufsziel ist vielleicht Konzertsängerin. Wenn ich keine Möglichkeit sehe, meine Stimme auszubilden, werde ich einen sozialen Beruf erwählen. Meine Mutter hat ein Trachtengeschäft mit Landhausmoden, Trachtenaccessoires, Stoffen für Dirndlkleider und Zubehör. Einen Teil der Geschichte unserer Familie hast du ja bereits mitbekommen. In meiner Freizeit gehe ich gerne ins Theater, wir haben ein Abo für die klassischen Konzerte der Münchener Symphoniker. Ich liebe, wie du weißt, die klassische Musik und die amerikanischen Songs. Außerdem bin ich in zwei Kirchenchören, spiele leidlich Klavier, gehe in die Berge, mag die Alpenflora und das Fotografieren. Wir singen mit dem Chor viele Konzerte, die hier in einigen bekannten Kirchen stattfinden. Ich mache gerne Handarbeiten und besitze eine kleine Rauhaardackelhündin mit Namen Walburga, genannt Burgel. So, Bub, jetzt weißt du a wengerl von mir und meiner Familie, gell.“
„Ach, weißt, mit deiner Familie zu leben, ist ganz schön aufregend. Was ich in den letzten vierundzwanzig Stunden so mitbekommen habe, ist schon eine Geschichte wert. Wenn ich das erzählen würde, wären ein paar Tage nötig. Aber du hast vieles von mir erfahren, was gute Freunde oft nicht von mir wissen“, erwiderte Diether lachend.
„Ich glaube, wir haben genug getratscht, ich bekomme allmählich Hungergefühle. Gehe nun ins Bad, hoffentlich ist es nicht besetzt?“, meinte Uschi schmunzelnd. Diether ließ sie aufstehen und sie huschte aus dem Schlafstüberl. Gott sei Dank, das Badezimmer war frei.
Es roch bereits nach frisch aufgebrühtem Kaffee. „Also ist Mariele schon in der Küche“, dachte Ursula. Sie beeilte sich mit ihrer Morgentoilette, damit Diether anschließend ins salle de bains konnte. Flink kehrte sie ins Zimmer zurück. Rasch beendete Diether ebenfalls seine Morgenwäsche. Unterdessen hatte sich Ulli angekleidet und über ihr Dirndl eine Trachtenstrickjacke gezogen. Sie sah in diesem Ensemble hinreißend aus. „Burli, i geh derweil hinunter in die Kuchl und helfe Mariele ein wenig beim Tischdecken, gell. Du kannst dich ja in der Zeit in Schale werfen, pfüet di.“
„Ja meine Kleine, dies werde ich tun, dann kimm i auch herunter, gell“, lachte er verschmitzt. Ulli sauste wie ein Wirbelwind das Treppengeländer herab und landete unsanft vor der Küchentüre.
„Ei, wer fällt mir denn da vor die Füße?“, rief die Baronin.
„Nun ja, es sollte schnell gehen, Urs hat anscheinend das Geländer poliert, so schwungvoll war i noch nie herunten“, grinste Uschi vielsagend.
„Du sollst ja auch nicht das Treppengeländer benutzen, Ursula, das tut eine junge Dame nicht mehr, besonders, wenn sie frisch verliebt ist, du Racker“, schimpfte Mariele belustigt.
„Kann ich dir noch zur Hand gehen?“, fragte ihr Mündel lachend.
„Na warte, du Lümmeline“, rief Mariele und warf ihr einen Topflappen an den Kopf, den Diether geschickt auffing.
„Was ist denn hier los, werden schon die Küchenutensilien zum guten Morgengruß benutzt“, schmunzelte er belustigt.
„Ja, ihr könnt mir noch etwas helfen!“ Mariele zeigte den beiden, was sie noch alles ins Esszimmer hinübertragen konnten. Die zwei halfen gerne und schnell waren die Dinge aus der Küche auf dem Tisch.
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